Barbara Hannigan erarbeitet eine Musteraufführung von Stravinskys „The Rake’s Progress“

Stravinsky, „The Rake’s Progress“, Barbara Hannigan,  DVD-Besprechung

Foto: © Musacchio & Ianniello / Accademia Nazionale di Santa Cecilia

„Barbara Hannigan erweist sich als bei allem Ehrgeiz und aller brennenden Energie doch auch als nachdenkliche, mit Skrupeln behaftete Künstlerin, die höchst sensibel und kollegial mit ihren jungen Schützlingen umgeht.“

DVD-Besprechung: Igor Stravinsky, The Rake’s Progress (Accentus music ACC 20420)

von Peter Sommeregger

Die kanadische Musikerin Barbara Hannigan gibt sich trotz anhaltend großer Erfolge nicht mit ihrer Karriere als Sängerin zufrieden, seit geraumer Zeit macht sie sich auch als Dirigentin einen Namen und, als ob das nicht schon ausreichen würde, betätigt sie sich auch noch als Mentorin von Nachwuchsprojekten.

Im Jahr 2016 rief sie das Projekt Equilibrium Young Artists gemeinsam mit dem Göteborger Symphonieorchester ins Leben. Es sollte mit jungen Nachwuchskräften eine Oper erarbeitet werden, die dann in halbszenischer Form erst in Göteborg, später als Gastspiel auch in anderen Städten gezeigt werden sollte. Hannigans Wahl fiel auf Igor Stravinskys originelle Oper „The Rake’s Progress“, nicht zuletzt, weil sie einst ihr Operndebüt als Anne Truelove in diesem Werk hatte.

Die zwei Jahre dauernde Vorbereitungszeit dieses Projekts wurde in einem knapp einstündigen Film dokumentiert, der dem Live-Mitschnitt der Göteborger Premiere auf einer weiteren DVD vorangestellt ist. In diesem Fall ist „the making of“ tatsächlich ebenso interessant, wie die spätere Aufführung. Das Kamera-Team begleitet Hannigan durch das Vorsingen in drei Städten, man wird Zeuge der finalen Auswahl der Sänger, später der Probenarbeit, was die Neugier auf die Aufführung selbst natürlich erhöht. Barbara Hannigan erweist sich als bei allem Ehrgeiz und aller brennenden Energie doch auch als nachdenkliche, mit Skrupeln behaftete Künstlerin, die höchst sensibel und kollegial mit ihren jungen Schützlingen umgeht.

Die halbszenische Einrichtung wurde von dem Regisseur Linus Fellbom ausgesprochen originell umgesetzt. Auf dem Podium vor dem Orchester steht ein Kubus, dessen Wandflächen nach Bedarf zur Seite gekippt, oder wieder aufgerichtet werden kann. Das ermöglicht erstaunlich viele Varianten für das Spiel der Protagonisten. Hannigan hatte eine gute Hand bei der Auswahl ihrer Sänger, die auch als Darsteller überzeugen können, die Auswahl erfolgte klugerweise wohl auch unter dem Gesichtspunkt des geforderten Temperaments des jeweiligen Darstellers, und so erleben wir glaubwürdige Rollenporträts von erstaunlicher Professionalität.

Der Tenor William Morgan als Tom Rakewell bringt genau den Typus leichtsinniger Luftikus auf die Bühne, als den man sich die Hauptfigur der Oper vorstellen muss. Stimmlich leistet er Bemerkenswertes, leicht hat Stravinsky es seinen Interpreten nicht gemacht. Sein Gegenspieler, der teuflische Nick Shadow findet in John Taylor Ward eine perfekte Verkörperung des personifizierten Bösen. Die Besetzung steht und fällt aber mit einer überzeugenden Sängerin der Anne Truelove. In der Griechin Aphrodite Patoulidou hat Hannigan sie gefunden, mühelos bewegt sie sich durch die schwierigen Passagen ihrer Partie. Das bekannteste Stück aus der Oper ist die große, in barocker Manier geschriebene Arie der Anne, die von Patoulidou mit einem strahlenden, lange gehaltenen hohen C gekrönt wird. Bei der Uraufführung hatte Elisabeth Schwarzkopf diese Rolle kreiert.

Foto: (c) Aphrodite Patoulidou

Als Baba the Turk hören wir Kate Howden, als Auktionator Sellem Ziad Nehme, beide in bester Form und rollendeckend. Einzig die Doppelbesetzung von Erik Rosenius als Father Truelove und Mother Goose macht wenig Sinn und irritiert eher.

Hannigan dirigiert mit größtem möglichen Einsatz, erweist sich als bestens mit dem Werk vertraut – während der gesamten Aufführung kann man den Gesangstext von ihren Lippen ablesen. Der Gesamteindruck fällt äußerst positiv aus, die Aufführung hat Biss und hohe musikalische Professionalität, wie ich auch bei einem Gastspiel der Produktion in Dresden im letzten Sommer mit fast vollständig veränderter Besetzung feststellen konnte.

Peter Sommeregger, 9. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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