Nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, sah ich mich zufrieden um. Ich bin hier zum zehnten und schon gar nicht zum letzten Mal. Mir fielen die Worte von Christian Thielemann ein, den ich einmal nach seiner Lieblingsoper Wagners fragte:
„Es ist, als würde Sie jemand fragen, ob Sie mehr Hummer oder Kaviar mögen“, erwiderte der Dirigent. „Oder trinken Sie lieber Burgunder oder Champagner? Lieber nicht wählen. Es ist am besten, heute eines und am nächsten Tag etwas anderes von seinen reichen Werken zu genießen.“
von Jolanta Łada-Zielke
Die Bahnfahrt von Nürnberg nach Bayreuth dauert nicht lange, manchmal bis zu einer Stunde, manchmal ein bisschen mehr, wenn in Pegnitz die Wagen getrennt werden und die Hälfte des Zuges nach Dresden fährt. Aber es ist der anstrengendste Teil der Reise, zumindest für mich, weil ich seit meiner Kindheit an der Reisekrankheit leide. Ich versuche in Fahrtrichtung zu sitzen, aber es hilft nicht viel, ich fühle mich trotzdem wie auf einem Karussell. Lesen, Schreiben, sogar aus dem Fenster schauen kommt nicht in Frage. Ich versuche an etwas Angenehmes zu denken, aber wenn das Fahrzeug hüpft und alle Kurven scharf nimmt, fällt es mir schwer. In meinem Kopf kreist ein kleines Flugzeug und etwas in meiner Speiseröhre bewegt sich auf und ab, wie eine Quecksilbersäule in einem Thermometer. Die einzige Rettung ist, ein Nickerchen zu machen. Es hilft auch, einen Kopfhörer in die Ohren zu stecken und sich mit Bach-Motetten in einer tollen Besetzung zu vergnügen.
Als ich am 1. August 2014 auf dieser Route unterwegs war, hatte ich ein zusätzliches Problem. Mein Zug von Hamburg war in Nürnberg mehr als eine halbe Stunde zu spät, so dass ich zwei frühere Verbindungen nach Bayreuth verpasste. Ich wollte unbedingt pünktlich sein, denn um 17:00 Uhr hatte ich ein Interview mit dem Dirigenten Axel Kober. Eine Stunde später sollte Samuel Youn, der damals den Holländer gesungen hatte, mir ein Interview geben. Außerdem wollte ich im Publikum eine Umfrage über „ Die Götterdämmerung“ aufzeichnen, die an diesem Tag am Grünen Hügel lief. Zu dieser Zeit arbeitete ich für Klassik Radio in Hamburg.
Als ich endlich in den Anschlusszug einstieg, informierte ich telefonisch das Pressebüro darüber, dass ich möglicherweise zu spät kommen würde, weil der Zug genau um fünf vor fünf am Ziel sein sollte. Als die Bahn den Bayreuther Bahnhof erreichte, sprang ich so schnell hinaus, wie es mein kleiner, aber schwerer Koffer zuließ und rief das erste verfügbare Taxi. Zum Glück ist das Festspielhaus nicht weit weg und die Fahrt dauerte drei Minuten.
Genau um 17:00 Uhr tauchte ich außer Atem im Pressebüro auf und begrüßte meine Ansprechpartnerin. Die junge Dame teilte mir mit, dass Herr Kober über meine mögliche Verspätung Bescheid wisse und erst in zehn Minuten eintreffe.
„Bitte setzen Sie sich, ruhen Sie sich aus, bedienen Sie sich mit etwas Schokolade, wenn Sie möchten“, und sie reichte mir eine ausgepackte und schon etwas angebrochene Tafel. Ich bekam auch ein Glas Sekt und war positiv überrascht. Vor zehn Jahren waren alle Mitarbeiter des Pressebüros zwar höflich, aber eher distanziert. Ich kam, machte meinen Job, aber niemand hatte mir etwas zum Essen oder Trinken angeboten. Und jetzt … wie schön!
Dann habe ich zwei interessante Interviews geführt. Als ich das Büro verließ, hatte gerade in der Vorstellung die Pause begonnen und ich konnte die Umfrage im Publikum durchführen. Aber was sollte ich mit dem Koffer tun? Ich dachte, ich versuche ihn in die Garderobe zu bringen. Wenn ich dafür bezahlen muss, mache ich das einfach. Ich bewegte mich in Richtung Haupteingang, wurde dort aber von einer Dame vom Publikumsdienst angehalten, die meine Festspielkarte sehen wollte.
„Für heute habe ich keine Karte, ich gehe erst morgen zur Vorstellung, heute möchte ich das Publikum aufnehmen und einfach meinen Koffer in der Garderobe lassen. Ich musste ihn hierher mitnehmen, weil mein Zug zu spät war…“, rezitierte ich fast im gleichen Atemzug und zeigte der Dame das Mikrofon mit dem Klassik-Radio-Logo, um meine Worte glaubwürdig zu machen.
Aber sie sagte, da ich keine Eintrittskarte hätte, würde sie mich nicht hereinlassen, auch nicht in die Garderobe.
„Darf ich zumindest den Koffer für einen Moment hier abstellen?“ Ich deutete auf den Platz neben dem Eingang.
„Naja, aber ich werde ihn nicht im Auge behalten, weil ich mich um die Festspielgäste kümmern muss“, antwortete die Dame hochmütig. Also stellte ich mein Gepäck in die Ecke und ging auf die Jagd.
Nachdem ich es geschafft hatte, einige interessante Aussagen aufzunehmen, schaute ich aus dem Augenwinkel zu meinem Koffer, und sah zwei Männer vom Sicherheitsdienst dort stehen und heftig diskutieren. Also rannte ich zu ihnen und gab ihnen eine angemessene Erklärung.
„Ach ja. OK, dann machen Sie ruhig weiter“, sagte einer von ihnen, „weil wir bereits darüber nachgedacht haben, den Koffer zu öffnen.“
Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Knapp wäre ich für eine Terroristin gehalten worden.
Nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, sah ich mich zufrieden um. Ich bin hier zum zehnten und schon gar nicht zum letzten Mal. Mir fielen die Worte von Christian Thielemann ein, den ich einmal nach seiner Lieblingsoper Wagners fragte:
„Es ist, als würde Sie jemand fragen, ob Sie mehr Hummer oder Kaviar mögen“, erwiderte der Dirigent. „Oder trinken Sie lieber Burgunder oder Champagner? Lieber nicht wählen. Es ist am besten, heute eines und am nächsten Tag etwas anderes von seinen reichen Werken zu genießen.“1
Dieses Jahr fahre ich nach Bayreuth zum 70. Festival Junger Künstler, das unter dem Titel „SOL. Summer of Love“ stattfindet. Meine Reise geht nicht über Nürnberg sondern ich steige in Bamberg um. Vielleicht wird der Zug nicht so schrecklich wackeln… Immerhin habe ich das Gefühl, dass es in meinem Leben mit dem Meister aus Bayreuth noch viele weitere Überraschungen geben wird.
Jolanta Lada-Zielke, 02. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
1 Das Interview wurde 2005 bei RMF Classic und bei Internet-Radio ART in Krakau veröffentlicht.
Ladas Klassikwelt 42: Ein ungebetener Gast am Tisch und… im Orchestergraben
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Jolanta Lada-Zielke, 48, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.