Faschingstanz der Arzneimittel © Andreas Raicher
„Unsre Stammkunden warteten mit Vorfreude auf den zweimonatlichen Wechsel der Auslagengestaltung. Einmal gab es, wie im Theater manchmal üblich, so etwas wie eine Unmutsäußerung. Ein Drogenabhängiger rastete vor dem Schaufenster aus und musste vom Einsatzkommando Cobra mit einer Schusswaffe in Schach gehalten werden.“
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Über die Arrangements seitens der pharmazeutischen Firmen nicht glücklich begannen meine Frau und ich die Auslagen unsrer Apotheke selbst zu gestalten, wobei wir „Regie“ führten, das „Bühnenbild“ am Anfang von einem Grafikstudenten, später von der Firma Tucan Grafic im 3. Wiener Gemeindebezirk hergestellt wurde. Zusätzlich gehörte zu unserem Team ein Model. Thema und Idee lieferten meine Frau und ich, bezüglich der Ausführung entstand ein reger Gedankenaustausch zwischen dem Studenten bzw. dem Grafikbüro und uns, so dass wie im Theaterleben schlussendlich zwischen Regie und Bild die Grenzen verschwammen.
Wie versinnbildlicht man den Ausspruch „Arzneimittel – Waren besonderer Art“, die besonderen Reinheitsgraden entsprechen und nach genauer ärztlicher Anweisung eingenommen werden müssen? Als Hochseilakt oder mit Hartgelatinekapseln und Dragees wie Preziosen arrangiert.
Die Weihnachtsauslagen sollten nicht konventionell biedermeierlich, sondern sozial aufrüttelnd auffallen.
Das Zitat „Entwicklung eines Parallelmarkts menschlicher Taten abseits unseres blinden Geldkreislaufs“ aus dem Roman „Der Sog“ von Matthias Mander stellte eine dramaturgische Herausforderung dar. Der Halbsatz entstand in wiederholter Überlegung als Konzentration der Gedanken eines halbseitigen Absatzes aus dem Buch.
In der Repräsentation der Apotheke nach außen gingen wir einmal so weit, zu einem gesellschaftlichen Thema Stellung zu beziehen und zwar bei der im Volksmund so genannten „Pille danach“.
Unter einer zweidimensionalen Ultraschallaufnahme eines Embryos war eine zweiteilige Bronzeplastik des ladinischen Bildhauers Guido Daurù (* 1926, † 2010) aufgestellt, die das Eindringen der Samenzelle in den weiblichen Organismus und eine im wahrsten Sinn des Wortes manipulierende, drängende Hand zeigt.
Dieses Mal eine Produktwerbung für einen Test für die fruchtbaren Tage.
Ein Freund des Studenten, der die Auslage sah, kritisierte: „Du stellst ja nur mehr ein Foto in das Schaufenster.“ Irrtum! Wichtig war die Wahl der Größe. Meine Frau und ich hätten an ein kleineres Format gedacht, ließen uns aber nach Fertigstellung überzeugen, dass die Größe des Bilds optimal gelungen war. Außerdem gab die Wahl der Farbe Pink dem Ganzen ein peppiges Aussehen. Es sind oft nur wenige und ganz einfache Dinge, die ausschlaggebend sind.
Mein Student nahm sich offensichtlich die Kritik des Freundes sehr zu Herzen. Eine weitere Zusammenarbeit wurde immer schwieriger, da seine Entwürfe von nun an zu kompliziert gedacht ausfielen. Zum Beispiel beim Erwecken von Vertrauen zu Medikamenten. Überschrift: Arzneimittel. Dann die Frage: Ist Ihr Vertrauen berechtigt? Dann die Werbung: St. Anna Apotheke – Unsere Verantwortung – Ihre Sicherheit. Was sollen die schwarzen und gelben Streifen und warum muss sich der Passant im Schaufenster spiegeln?
Unsre Stammkunden warteten mit Vorfreude auf den zweimonatlichen Wechsel der Auslagengestaltung. Einmal gab es, wie im Theater manchmal üblich, so etwas wie eine Unmutsäußerung. Ein Drogenabhängiger rastete vor dem Schaufenster aus und musste vom Einsatzkommando Cobra mit einer Schusswaffe in Schach gehalten werden.
Hier ist offensichtlich die Komprimierung des Gedankens, dass durch pflanzliche Beruhigungsmittel die Gefahr einer Abhängigkeit verringert wird, schief gelaufen.
Ein besonderes Projekt war die Entwicklung einer Heilpflanze im Laufe der Jahreszeiten den Kunden und Passanten aufzuzeigen. Eine Schaufenstergestaltung als Serie in mehreren, über das Jahr verteilten „Aufzügen“. Es wird die Entwicklung und das Leben einer Heilpflanze, der Ringelblume, gezeigt. Literatur: Christina Kiehs-Glos, „CALENDULA. Eine Heilpflanze spiegelt das Licht“. In der Vitrine sind zwei Tafeln aufgestellt. Eine mit einem kurzen Text und daneben ein großes Bild zur Veranschaulichung. Wir gehen mit den Jahreszeiten und beginnen mit dem April. Der Betrachter soll sich in den Keimling hineinversetzen, wie er sich windend, ruckend und zuckend dem Morgenlicht entgegen die Erde durchstößt.
Jeden Monat eine andere Beschreibung und ein neues Bild. Die Monate vergehen. „Die Blattentwicklung gipfelt in der Blüte. Nach Wachstum Zeit für Verinnerlichung.“ „Die Ausbreitung des Blatts tritt zurück. Es entsteht ein neues Ausmaß: Hohlraum, Umschließung.“
Die Zeit schreitet voran und es naht der Winter mit Weihnachten. Jetzt bleibt nur mehr zum Finale das Thema „Die Ringelblume in der Kunst“.
Emil Nolde hat das berühmte Bild mit den Ringelblumen gemalt, wie der Widerschein ihres Lichts sich auf dem Gesicht ihres Schöpfers spiegelt, als trinke der Schöpfer das Licht seiner Geschöpfe.
In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kamen die Bachblüten in Mode. Konnten wir diese alternativen Medizinprodukte guten Gewissens feilbieten? Unsere Antwort gaben wir mit einer Schaufenstergestaltung.
Die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Der Apotheker geht mit seinen Kunden auf Entdeckungsfahrt.
Die Idee, den Wirkstoff eines Arzneimittels als Molekül in die Auslage zu stellen mit seinen verschiedenen Atomen in verschiedenen Farben empfanden die Patienten sogar in unsrem wissenschaftsorientierten Zeitalter eher als unheimlich und die Idee fand weniger Beifall.
Ein Kunde schenkte uns eine alte Postkarte der Kreuzung Nussdorfer Straße – Währinger Straße, aufgenommen und nachkoloriert am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Man beachte im Bild, damals gab es noch den Linksverkehr. Und auch das alte Holzportal der Apotheke am Eck ist noch zu sehen. Dieses Motiv stellten wir aus, als wir im Schaufenster „die gute alte Zeit“ hinterfragten. Damals saßen noch bangende Mütter am Bett ihrer hochfiebernden Kinder und die Zuckerkrankheit war nicht selten ein Todesurteil.
Denselben Hintergrund verwendeten wir anschließend, als wir für „Wiener Blut“ in der nahen Volksoper mit dem Tenor Sebastian Reinthaller warben. So schloss sich der Kreis zur echten Bühne.
Hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben, wäre mein Traum gewesen, chemische Reaktionen mit Tänzern filmisch zu veranschaulichen. Dieser Gedanke ließ mich nie ganz los. Im Programmheft des, wenn wir uns nicht irren, Mariinsky-Theaters fanden meine Frau und ich eine geeignete Abbildung für unser letztes Schaufenster vor unserem Ruhestand.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 26. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt 26: Leonard Cohen – Ein Leben in Gesprächen
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“