Ewig könnte man Christian Gerhaher im "Lied von der Erde" zuhören

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, Klaus Florian Vogt, Christian Gerhaher  Bayerische Staatsoper, München, Live-Stream am 8. März 2021

Bayerische Staatsoper, München, Live-Stream am 8. März 2021
Videostream: Montagsstück XVII: Das Lied von der Erde

© W. Hösl, Christian Gerhaher, Gerold Huber

Gustav Mahler: Das Lied von der Erde

  1. Satz: Das Trinklied vom Jammer der Erde. Allegro pesante
  2. Satz: Der Einsame im Herbst. Etwas schleichend. Ermüdet
  3. Satz: Von der Jugend. Behaglich heiter
  4. Satz: Von der Schönheit. Comodo. Dolcissimo
  5. Satz: Der Trunkene im Frühling. Allegro. Keck aber nicht zu schnell
  6. Satz: Der Abschied. Schwer

Tenor Klaus Florian Vogt
Bariton Christian Gerhaher
Pianist Gerold Huber

von Frank Heublein

So kenne ich das Lied von der Erde noch nicht. Mahler selbst zeichnet für diese Klavierfassung verantwortlich. Ich bin gespannt. Das Klavier begleitet in den Sätzen abwechselnd in diesem Fall einen Tenor und einen Bariton. Der Part des Baritons kann auch durch eine Altstimme interpretiert werden.

Der ersten Satz „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ ist musikalisch überschrieben mit „Allegro pesante“. Drängend, forsch, gejagt und sehr aktiv empfinde ich Klaus Florian Vogts Stimme. Dunkel kulminierend in der Liedzeile „Dunkel ist das Leben, ist der Tod“. Am Ende ist seine Stimme in den Höhen stark gefordert.

Der Mahlersche Naturklang, den ich aus der Orchesterfassung kenne und liebe, wird durch das Orchester geprägt. Das solistische Klavier macht diesen für mich für Mahler stehenden Klang nicht spürbar. Das ist nicht schlecht, es überrascht mich nur. Diese Fassung klingt anders, fühlt sich erst einmal anders an.

Den zweiten Satz „Der Einsame im Herbst“ hat Mahler überschrieben mit „Etwas schleichend. Ermüdet“. Hier höre ich den Mahlersche Naturklang. Jedoch nicht etwa vom Klavier. In diesem Fall packt mich Bariton Christian Gerhaher vom ersten Einsatz an, er öffnet meine Wahrnehmung von der ersten Zeile an hin ins naturklangliche Gemälde Gustav Mahlers. Der Bariton pointiert hervorragend, in diesem zweiten Satz vom Elegischen ins Schmerzende.

Die Natürlichkeit der Vergänglichkeit des Herbstes, er lässt sie mich zugleich hören und tief spüren. Mich berührt dieser zweite Satz intensiv. Wie ein sanfter Stromstoß durchfließen mich die Zeilen „Mein Herz ist müde. Meine kleine Lampe / Erlosch mit Knistern, es gemahnt mich an den Schlaf.“ Gerhahers Stimme hat immer genügend Kraft, die er genau dosiert. Für mich ist da keinerlei Zweifel: egal was kommt, seine Stimme hat immer ausreichend Kraftreserven in der Hinterhand.

Der dritte Satz „Von der Jugend“ ist „Behaglich heiter“. Heller und leichter klingt für mich nun Klaus Florian Vogts Stimme. Doch habe ich kaum Gelegenheit, die gelöste Stimmung in mich aufzunehmen, so kurz ist dieser Satz.

Gerold Huber, Klaus Florian Vogt, © W. Hösl

Der vierte Satz „Von der Schönheit“ ist überschrieben mit „Comodo. Dolcissimo“. Christian Gerhaher erzählt singend. Er variiert seine Stimme in kürzester Zeit. Eine Halbzeile kraftvoll, dann eine verspielt, eine weitere in Gedanken versunken. Die Variationsbreite und die Geschwindigkeit des Wechsels ist atemberaubend. Ich folge der Stimme aufmerksam, begeistert und atemlos. „Dampfen heiß die Nüstern!“ stößt Christian Gerhaher fast gesprochen aus. Um gleich darauf die Zeile „Gold’ne Sonne webt um die Gestalten“ sanft und wie vorgegeben Dolcissimo, süß zu intonieren. Ich verfalle seinem Gesangs-Spiel. Er schafft es, die durch den Text transportierten Gefühle direkt in mich hinein zu pflanzen.

Der fünfte Satz „Der Trunkene im Frühling“ überschreibt Mahler mit „Allegro. Keck aber nicht zu schnell“. Keck höre ich das Klavier, Klaus Florian Vogts Stimme wirkt auf mich eher ernst wie keck. Er singt sehr gut, doch die „verlangte“ Stimmung springt nicht auf mich über. Die Schlusszeilen „Was geht mich denn der Frühling an!? / Laßt mich betrunken sein!“ klingen mir eher heroisch trotzig denn keck.

Der sechste Satz heißt „Der Abschied“ und soll „schwer“ sein. Dieses unscheinbare „schwer“ trifft nicht, was Christian Gerhaher da alles mit seiner Stimme in mich hinein transportiert.

Seine mir vermittelte Vielfalt der Schwere ist facettenreich! Melancholie, das Changieren zwischen wohliger Erinnerung und schmerzlichen Vermissen: „Die Erde atmet voll von Ruh’ und Schlaf, / Alle Sehnsucht will nun träumen / Die müden Menschen geh’n heimwärts, / Um im Schlaf vergess’nes Glück / Und Jugend neu zu lernen!“

Besucherin Nr. 1 (Statistin), © W. Hösl

Mit diesen Textzeilen liefert mir Christian Gerhaher einen weiteren Stromschlag. In seiner Stimme erspüre ich einen Moment früher als ich in diesen Zeilen meine innere Wahrheit erkenne. Eine Wahrheit, die in mir in diesem Moment ein überwältigendes Gewicht erzeugt. „Schwer“ und doch so viel tiefer und differenzierter, denn Christian Gerhaher wechselt zum Teil wortweise zwischen Forte und Piano, zwischen positiver Erwartung und schwermütiger Vorahnung.

Der Bariton bietet mir ein fulminantes stimmliches Kino, ich sehe innerlich, was er mit seiner Stimme in mich hinein singt. Etwa das Schmerzvolle, Sehnende bei „Wo bleibst du? Du läßt mich lang allein!“.

Im langen dramatischen Klaviersolo zeigt Pianist Gerold Huber sein ganzes Können. Die gefühlten Wirren. Die Spannung steigt in der nachfolgenden Liedzeile „Er sprach, seine Stimme war umflort“. Die Aussage hört sich wenig spannend an. Aber wie Christian Gerhaher diese singt! Er schafft die Spannung mit seiner pointierten gesanglichen Betonung.

Tieftraurig löst sich die Spannung auf mit „Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold! / Wohin ich geh’? Ich geh’, ich wand’re in die Berge. / Ich suche Ruhe für mein einsam Herz!“ Ist das ein Satz für Mahler selbst? Seine Enttäuschung? Christian Gerhaher jedenfalls lässt mich in diesem Moment dieses Gefühl in jeder Pore spüren.

Um mich gleich darauf mit der zerrissenen Melancholie zu konfrontieren, die in „Ich wandle nach der Heimat! Meiner Stätte! / Ich werde niemals in die Ferne schweifen.“ liegt.

Das am Ende einige Male wiederholte „Ewig“ gilt für mich: ewig könnte ich Christian Gerhaher im heutigen Lied von der Erde zuhören, meine Gefühle durch seine Stimme leiten lassen.

Frank Heublein, 9. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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