Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Bei vielen Komponisten finden sich Werke, die entweder durch ihre perfekte Anwendung althergebrachter Formen oder durch die Zuwendung zu neuen, experimentellen Ausdrucksweisen herausstechen. Letzteres geht oft nach hinten los; nicht jedes Experiment liefert ein überzeugendes Ergebnis. Ganz Bizarres ergibt sich zuweilen, wird beides miteinander vermengt. Einen solchen Hybriden stellt die siebte Sinfonie von Gustav Mahler dar.
Der Komponist des „Liedes von der Erde“ und der „Sinfonie der Tausend“
ist einer jener Künstler, die den Übergang von einer Kunstepoche zur nächsten maßgeblich mitgestaltet haben. Aufsehen erregten bereits seine ersten Sinfonien. Seine Dritte ist – der komplexeren sechsten zum Trotze – meine zweitliebste Komposition aller Zeiten (Nummer 1: Strauss’ „Alpensinfonie“). Mahlers Stärke lag eindeutig in Kompositionen, denen sich durch ihren Ausdruck oder den Text auch klare Inhalte zuordnen lassen
Aber was er mit der Siebten sagen wollte, dürfte wohl auch hundert Jahre nach der Erstaufführung ein Rätsel bleiben. Es fängt schon bei dem Beinamen „Lied der Nacht“ an, der – obwohl nicht vom Komponisten stammend – zwar die Stimmung der Musik erfasst aber gleichzeitig zum Kopfzerbrechen einlädt.
Das Rätsel nimmt bereits mit dem ersten Satz Fahrt auf. Mahlers Tendenz, die Grenzen des tonal Anhörbaren auszureizen, ist hier bereits im tiefen Gröhlen des Orchesters überstrapaziert. Der Einfall, ein Tenorhorn für die Solostellen einzusetzen, ist so genial wie einzigartig für ihn – diese düstere, dumpfe Klangfarbe, die den beinahe schon verbitterten Charakter der Komposition unterstreicht, hätte so viel erreichen können – hätte der Komponist sie eben nicht nur auf diesen einen Satz beschränkt.
Generell scheint in dieser Sinfonie nachhaltige Materialnutzung kein Thema zu sein – wer könnte sonst Gitarre, Mandoline und Tenorhorn für jeweils nur wenige Minuten Musik rechtfertigen? Deren wunderbaren Klangcharakter zu fordern und dabei gleichzeitig in einer 90(!)-Minuten-Sinfonie radikal zu beschränken, ist reine Verschwendung. Mit einem großen Namen kann man sich das vielleicht erlauben, aber wer möchte in der Realität Extra-Musiker für wenige Takte bezahlen müssen? Ob diese Sinfonie deshalb wohl auf den Spielplänen eher ein Schatten-Dasein fristet?
Auch kompositorisch existieren Probleme. Zu viel Unruhe entsteht beispielsweise durch unstetes Auf und Ab – in den ersten 25 Minuten gibt es weder ein einheitliches Tempo, noch deutlich ausgestaltete Formen. Die teilweise bis zur Unschärfe zerfetzten Melodien halten kaum als Orientierungspunkte her; die emotionale Klarheit leidet. Viel eher stellt sich das panikartige Gefühl ein, im Trubel des dramatischen Klangbombardements von den fanfarenartigen Horneinwürfen mitgezerrt zu werden.
Einen Ruhepol erlebt der erste Satz zwar schon – aber das Prinzip ist fast eins zu eins aus dem ersten Satz der vorangegangenen sechsten Sinfonie kopiert. In der „Sinfonie mit dem Hammerschlag“ ist es obendrein auch noch überzeugender, weil klarer umgesetzt.
Was die siebte Sinfonie anders macht, ist das an eine Katastrophe grenzende Ende des ersten Satzes – bei dem aber das für Mahler ansonsten fast zwingende Tamtam durch Abwesenheit glänzt. Es muss gefragt werden, ob er damit nun wirklich eine Katastrophe ausdrücken wollte.
Schwierig sind auch die drei Mittelsätze. Der zweite mit „Nachtmusik“
betitelte Satz besticht beispielsweise durch inkonsequente Aufbäum-Versuche, die wie Rohrkrepierer in sich zusammenkrachen anstatt eine Ausführung zu erleben. Das hauptsächlich durch die Hörner vorgetragene Marschthema zum seichten Streicher-Stampfrhythmus wirkt zwar. Doch wird diese Musik häufig durch chaotische Holzbläserphrasierungen und ganz aus dem Kontext fallendes Herdengeläut gestört. Diese Einsätze – würden sie nicht in der Partitur stehen – könnten genauso gut Albernheiten der Musiker sein.
Die größten Längen finden sich aber im dritten „schattenhaften“ und im vierten Satz. Diese sind noch uneinheitlicher als die vorangegangenen. Angestrebte Walzer-Rhythmen im dritten Satz können sich beispielsweise selten durchsetzen, merkwürdig groteske Einwürfe von Klarinetten oder der Tuba grenzen gar an Störungen. Diese Segmente klingen zu häufig wie gewollt und nicht gekonnt – ob das gar die Folgen der kreativen Blockade sind, die Mahler bei dieser Komposition nachgesagt wurde? Es bleibt jedenfalls zu oft die Frage: „Was soll das jetzt?“.
Auch im vierten Satz, der „zweiten Nachtmusik“ erzeugt Mahler zwar einen intim kammermusikalischen Ausdruck durch den fast schon infantilen Einsatz von Mandoline und Gitarre. Diese brechen aber merkwürdig uneinheitlich aus dem sonstigen Konzept der Sinfonie heraus. Ist das nun ein Kontrast zu dem restlichen Chaos? Eine geruhsame Schlaf-Periode? Oder ein wehmütiges Aufblicken – erneut schielt einen die sechste Sinfonie an. Schade auch, dass in diesen fast 18 Minuten Musik so gar keine Spannung aufkommen will.
Der Schwerpunkt klanglichen Ausdrucks liegt nach diesen Ruhepassagen eindeutig auf dem Finale, dem ein paar Minuten weniger gut getan hätten. Mahler gelingt hier zwar nach den fast eine dreiviertel Stunde langen Hängepartien zur Mitte der Sinfonie endlich wieder ein bombastischer Spannungsaufbau. Diesen schmückt er aber untypischerweise mit dem Tamtam aus – bei Mahler immer ein Symbol für Tod oder Zerstörung.
Mit dieser atypischen Verwendung öffnete Mahler der interpretatorischen Willkür dieses Werks Tür und Tor. Deutungen reichen von einem freudestrahlenden und durch Glocken verzierten Finale über manische Depressionen, Ironie oder sogar bis hin zu einem „sich zu Tode tanzen“ – Ausflüge in Dekadenz verteufelnde Ideologien miteingeschlossen. Es scheint fast, als könnte man auf dieses Werk alles und nichts anwenden. Dass die Sinfonie dadurch auch ihren Aussagecharakter verliert, ist wohl ihr größter Mangel. Eine Verschwendung von Potenzial. Nein, diese Siebte ist leider kein Glanzstück.
Daniel Janz, 12. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 2: Das „Hallelujah“ aus Georg Friedrich Händels „Messiah“ (1742)
Meine Lieblingsmusik (61): Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ (1915)
Ich gestehe, dass diese Symphonie auch mir von allen Schöpfungen Gustav Mahlers die größten Schwierigkeiten bereitet. Aber den Mut zu einer so negativen Bewertung würde ich nicht aufbringen. Zu groß ist meine Zuversicht, dass sich mir die Absicht des Künstlers doch noch erschließt, wenn ich das Werk einmal in einer wirklich inspirierten Interpretation erleben kann!
Lorenz Kerscher