Foto: Daniel Hope © Nicolas Zonvi
Vladimir Jurowski demonstriert erneut den außergewöhnlichen Rang, zu dem er sein Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gebildet und geführt hat.
Philharmonie Berlin, 21. November 2021
Jelena Firssowa Nacht in Appen (Uraufführung)
Alban Berg Konzert für Violine und Orchester
„Dem Andenken eines Engels“
Pjotr Iljitsch Tschaikowski Sinfonie Nr. 6 h-Moll
„Pathetique“
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Daniel Hope Violine
Vladimir Jurowski Dirigent
von Peter Sommeregger
Das jüngste Konzert Vladimir Jurowskis mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin fiel auf den Totensonntag. Ein Datum allgemeinen Totengedenkens und Innehaltens. Das dafür gewählte Programm war in sehr subtiler Weise darauf abgestimmt.
Zu Beginn stand eine Uraufführung an, das vom Orchester beauftragte Orchesterwerk der russischen Komponistin Jelena Firssowa. Die 1950 geborene Komponistin ist in der laufenden Saison Composer in Residence des Orchesters. Das Stück „Nacht in Appen“ wurde inspiriert durch eine unruhig verbrachte Nacht der Komponistin im Hause ihrer Kollegin und Freundin Sofia Gubaidulina, der sie die Komposition auch gewidmet hat. Zunächst nicht einzuordnende Geräusche hatten in jener Nacht Firssowa geängstigt und zu Albträumen geführt. Das Werk, geschrieben für große Orchesterbesetzung nimmt die Stimmung dieser unruhigen Nacht auf und schildert die entstehenden Ängste durch den Einsatz wechselnder Orchestergruppen, die zum Teil zu großer Lautstärke auflaufen. Das Publikum nahm das Stück durchaus positiv auf, und die Komponistin wurde gebührend gefeiert.
Es folgte eine Aufführung des Violinkonzertes von Alban Berg, einem Schlüsselwerk der Zwölftonmusik, das als einziges seiner Gattung so etwas wie Popularität und hohe Aufführungszahlen erreicht hat. Gleichsam als Requiem für die jung gestorbene Manon Gropius gedacht, wurde es zu Alban Bergs Schwanengesang. Durchzogen von einem Grundton tiefer Traurigkeit verarbeitet es auch tonale Elemente, wie ein Bach-Zitat und österreichische Ländlerweisen. Daniel Hope, einer der führenden Geiger der Gegenwart, gab dem diffizilen Solopart des Konzerts die geforderte Tiefe des Ausdrucks, kostete gleichzeitig die lyrische Schönheit einzelner Passagen aus. Er entlockte seiner Guarneri von 1742 überirdisch schöne Töne, die seine Interpretation zu einer besonders gelungenen machten. Als Zugabe wählte er einen Satz aus der Violinsonate des im Dritten Reich als „entartet“ verfemten Komponisten Erwin Schulhoff.
Krönender Abschluss des Konzertes war die 6. Sinfonie Pjotr Iljitsch Tschaikowskis, die „Pathetique“. Der Komponist selbst hatte sie als einem Programm folgend bezeichnet, das er aber als unlösbares Rätsel verstanden haben wollte. Die Tatsache, dass Tschaikowsky neun Tage nach der von ihm geleiteten Uraufführung der Sinfonie verstarb, verhalf dem Werk schon früh zu einer Aura des Geheimnisvollen. Sehr ungewöhnlich ist die Architektur des viersätzigen Werkes. Die Ecksätze sind in diesem Fall die lyrischen, die Binnensätze jeweils Allegro, bis zum Allegro molto vivace des dritten Satzes, der regelmäßig zu verfrühtem Applaus des Publikums führt, nicht anders bei dieser Aufführung. Tschaikowsky lässt hier tiefe Einblicke in seine zerrissene, komplizierte Seele zu, deren Deutung aber Spekulation bleiben muss.
Vladimir Jurowski demonstriert erneut den außergewöhnlichen Rang, zu dem er sein Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gebildet und geführt hat. Sei es das anspruchsvolle neue Werk, sei es die Zwölftonmusik Alban Bergs oder Tschaikowskys leidenschaftliche Ausbrüche, sie werden in virtuoser solistischer Qualität geliefert und lassen ein begeistertes Publikum dankbar zurück.
Peter Sommeregger, 22. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at