Die Neuinszenierung des „Rigoletto“ an der Londoner Royal Opera unter der meisterhaften Regie des Direktors des Hauses für die Sparte Oper, Oliver Mears, reiht sich in die hochkarätige Serie großer Opern, die an der Königlichen Oper in Covent Garden zu bewundern ist: Tosca, Nozze di Figaro, Traviata. Mears erspart dem Zuschauer nichts – seine Inszenierung macht mehr als deutlich, dass dies (trotz der zwischen dem Herzog und Gilda aufflammenden Liebe) keine romantische und (trotz der eingängigen Melodien) keine Belcanto-Oper ist: Das ist knallharter Verismo. Im Palast des Herzogs wird schonungslos Brutalität praktiziert, Monterone werden auf offener Bühne die Augen ausgestochen, in der mörderischen Taverne des Sparafucile wird ungehemmter Sex zwischen dem Herzog und Maddalena vollzogen und das Gewitter im dritten Akt erschüttert mit grellen Blitzen und dem durchdringenden Chorgeheul des Windes nicht nur die Bühne, sondern auch den Zuschauerraum. Die Darsteller sind dieser ambitionierten Inszenierung vollumfänglich gewachsen, mit ihren großartigen Stimmen und ihrer hervorragenden Rollen-Charakterisierung gehen sie nicht unter in dieser groß dimensionierten Inszenierung. Wir erleben hier Verdi auf dem Höhepunkt seines Schaffens, in seiner wohl erfolgreichsten Oper, die Verdi selbst gegenüber seinem Freund Cesare De Sanctis geradewegs als „meine beste Oper“ bezeichnete.
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Giuseppe Verdi, “Rigoletto”, Libretto: Francesco Maria Piave (nach Victor Hugo), Royal Opera House Covent Garden, 12. März 2022
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Foto)
Dass vor der dramatischen Ouvertüre des „Rigoletto“ die ukrainische Nationalhymne aus dem Orchestergraben des in den gelb-blauen Nationalfarben der Ukraine angestrahlten Hauses ertönte, war ein Akt der Solidarität mit dem Opfer der russischen Aggression – der vom Publikum mit einhelligem Applaus begrüßt wurde. Gleichzeitig aber weckte dies die Erkenntnis, wie sehr sich doch Gewaltherrscher gleichen: Hier der Herzog in seinem Palast, Herrscher über ein Herzogtum, umgeben von willfährigen Höflingen, der über Leichen geht, um seinen Willen durchzusetzen – dort der Diktator eines riesigen Landes, der hemmungslos ein ganzes Land und dessen Zivilbevölkerung seinen paranoiden Großmachtsfantasien opfert.
Verdi wurde oft als der vielleicht politischste unter den Opernkomponisten genannt (unbedingt muss man allerdings Puccinis „Tosca“ zu den hochpolitischen Werken zählen…) – und wohlbekannt ist ja auch, wie „Rigoletto“ die Hürden der politischen Zensur zu passieren hatte und entsprechend modifiziert wurde. Nicht erwähnen muss man in diesem Zusammenhang „Nabucco“, der zur Nationaloper Italiens wurde mit dem Chor der hebräischen Exilierten, der zur „geheimen Nationalhymne“, zum Fanal eines geeinten, freien Italiens wurde… Eine Verdi-Oper vor dem Hintergrund der entsetzlichen Nachrichten vom ukrainischen Schlachtfeld – aktueller könnte eine Oper, könnte ein Komponist kaum sein.
Victor Hugo’s „Le roi s’amuse“ war für Verdi das größte Thema und Drama seiner Zeit – ein Werk „würdig eines Shakespeare“. Verdi wollte bekanntlich dessen „King Lear“ als Oper vertonen – und die Fachwelt ist sich einig, dass „Rigoletto“ gewissermaßen der Ersatz war. Gemeinsam ist beiden Werken die schicksalshafte Vater-Tochter-Beziehung. Und trotz der unendlich schönen Melodien des Liebesduetts zwischen Herzog/Tenor und Gilda/Sopran sind die Bariton-Sopran-Duette zwischen Rigoletto und seiner Tochter Gilda die berührendsten und musikalisch tiefsten dieser Oper.
Diese beiden Sänger waren denn auch die umjubelten Stars des Abends. Die Gilda der italienischen Sopranistin Rosa Feola, die ihre Ausbildung unter anderem an der renommierten Accademia Nazionale Santa Cecilia genossen hatte, war zum Steinerweichen berührend – eine klare, variationsreiche, warme und tragende Stimme. Ihr gegenüber ein fast überdimensioniert tragischer Rigoletto, Luca Salsi, geboren in der Verdi-Stadt Parma – erschütternd als Darsteller, begnadet mit einer kraftvollen, dramatischen und doch weichen Baritontimme. Der Herzog des jungen Sarden Francesco Demuro vermochte mit präzise gezeichneten musikalischen Linie und tenoralem Schmelz zu erfreuen, blieb aber dennoch hinter den ganz großen Interpreten dieser illustren Rolle zurück. Der Sparafucile des russischen Bassisten Evgeny Stavinsky war genauso eiskalt-berechnend wie es diese Rolle des professionellen Bösewichts erforderte. Und seine Schwester Maddalena, verkörpert von der russischen Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina, mimte in dieser Inszenierung nicht die attraktive Verführerin, sondern eine ziemlich kaputte Hure, die auf eine volle Weinflasche angewiesen ist, um die vom Bruder zugewiesene Funktion zu erfüllen. Im berühmten Quartett „Bella figlia dell’amore“ fügte sich ihr harmonischer Mezzo perfekt in den Vierklang des Bariton, des Tenors und des Soprans.
Der Herzog sammelt beides: Kunst und Frauen. Den herzöglichen Palast im ersten Akt dominiert eine überdimensionierte Reproduktion von Tizians laszivem Akt „Venus von Urbino“ die Bühne, im zweiten Akt wird das Gemälde durch das ebenso riesige „der Raub der Europa“, ebenfalls von Tizian, ersetzt: Der Herzog identifiziert sich unverkennbar mit Zeus, der die schöne Europa in der Gestalt eines Stiers entführt und, selbstverständlich, vergewaltigt. Da lässt sich der Bühnenbildner (Simon Lima Holdsworth) freien Lauf, denn keines der beiden Bilder war je in Mantua im Palast des Herzogs. Unter der so suggestiven „Venus von Urbino“ bietet sich eine ganze Schar von farbenprächtig gewandeten Damen dem Herzog an… was da abläuft, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Als Kontrast zu den beiden hocherotischen Gemälden das kleine Madonnenbild in der Kammer Gildas, die von innen erleuchtet erhöht über dem Bühnenbild schwebt – eine Klosterzelle gleichsam, in die Rigoletto seine Tochter eingesperrt hat, um sie vor der bösen Welt zu schützen. Und sie, die Naive, Weltunerfahrene, damit paradoxerweise erst recht den tödlichen Gefahren dieser Welt aussetzt. Interessant ein Detail: die keusche Gilda nimmt anfänglich in ihrer Kammer dieselbe verführerische Pose ein wie die nackte Venus von Orbino auf Tizians berühmten Gemälde…
Die Abfolge der Szenen lässt den Zuschauer nicht los, versetzt ihn in atemlose Spannung. Dass es in dieser Oper nur einen reinen Männerchor gibt, ist kein Zufall: „It’s a man’s world“… Stolz und mit skurrilen Zuckungen berichten diese Männer des Hofstaats dem Herzog ihre Heldentat: Die Entführung Gildas, die sie ihrem Chef gewissermaßen ins Haus geliefert haben. Die Inszenierung erinnert an einen Film – besonders im letzten Akt, wo Rigoletto den Sack mit dem vermeintlich ermordeten Playboy zu jener Stelle zerrt, wo er ihn im Fluss versenken will: Hier bewegt sich langsam, während es allmählich tagt und das Gewitter abebbt, die gesamte Kulisse bis zum tragischen Höhepunkt – der Entdeckung, dass das Mordopfer die eigene Tochter ist. Im Hintergrund trällert der Herzog sein sarkastisches „La donna è mobile“ – und verhöhnt damit ohne es zu wissen die Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt.
Dr. Charles E. Ritterband, 14. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Stefano Montanari
Inszenierung: Oliver Mears
Bühnenbild: Simon Lima Holdsworth
Chordirigent: William Spaulding
Der Herzog von Mantua: Francesco Demuro
Rigoletto: Luca Salsi
Gilda: Rosa Feola
Sparafucile: Evgeny Stavinsky
Maddalena: Aigul Akhmetshina
Graf Monterone: Philipp Rhodes
Männerchor und Orchester der Royal Opera
Giacomo Puccini „Tosca“, Angela Gheorghiu, Royal Opera House Covent Garden, 8. Februar 2022
Georg Friedrich Händel, „Theodora“, Royal Opera House London, 7. Februar 2022
W.A. Mozart, Die Hochzeit des Figaro, Royal Opera House – Covent Garden, 25. Januar 2022