Foto: Von Moritz Daniel Oppenheim – https://thejewishmuseum.org/collection/31380-portrait-of-fanny-mendelssohn-hensel
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Frauen sind insbesondere im Bereich der Klassischen Orchestermusik immer noch unterrepräsentiert – gerade auch, wenn es um das Kompositionshandwerk geht. In der Szene machen nur wenige Namen überhaupt die Runde: Wer sich auskennt, hat vielleicht schon einmal die Namen Alma Mahler oder Clara Schumann gehört. Dabei gab es sie bereits durch die Jahrhunderte hinweg: Die Komponistinnen und Frauen, die im Schatten der „großen“ Männer standen oder wegen ihres Geschlechts kaum Gehör fanden. So erging es auch der bis heute fast unbekannt gebliebenen Fanny Hensel.
Na, Hand auf’s Herz – ist Ihnen der Name ein Begriff? Oder haben Sie den Namen „Fanny Hensel“ schon einmal im Konzertsaal gehört? Sie auch nicht? Wie wäre es dann mit dem Namen Mendelssohn? Ganz richtig – diese 1805 geborene Hamburgerin war keine Geringere, als die Schwester des zu Weltruhm gelangten Mendelssohn-Bartholdy. Und wie ihr nur ein halbes Jahr nach ihr verstorbener Bruder besaß auch sie herausragende Kompositionsfertigkeiten.
Doch Fanny Hensels Musik ist ein relativ modernes Phänomen. Erst seit 1980 interessiert sich die Musikforschung überhaupt für die 1847 in Berlin verstorbene Künstlerin, obwohl sich unter ihrem Vermächtnis spannende Titel, wie zwei Oratorien Hiob und „Höret zu, merket auf“, ein Klavierzyklus „Das Jahr“ und etliche Lieder befinden. Ein überwältigender Teil ihrer Kompositionen gilt selbst nach 150 Jahren immer noch als unentdeckt oder nicht wiederhergestellt. Nur 11 ihrer über 460 Werke sind bisher mit opus-Zahlen versehen – die meisten sind Klavierstücke und Lieder. Dass diese verkannte Künstlerin überhaupt einmal im Konzertsaal erklingt, lässt sich als Seltenheit bezeichnen, wenn nicht sogar als Novum.
Und dabei zeigen die Werke, die es bereits auf die Bühne geschafft haben, dass sie weder ihrem Bruder, noch anderen Romantikern ihrer Zeit in etwas nachstand. Paradebeispiel dafür ist ihre Ouvertüre in C-Dur, ein etwa 10-minütiges Stück für Orchester. Wie ein lauwarmer Sommerwind entfaltet sich diese durch den beginnenden Hornstoß und das darauffolgende Wechselspiel zwischen Streichern und Holzbläsern. Der Einstieg macht klar: Das hier ist edle Musik!
Auch die Harmoniewechsel schon in den ersten Takten lassen aufhorchen. Beginnt das erste Motiv noch in G-Dur, leitet Fanny beim Mittelsatz ihres periodischen Themas in h-Moll hinein, lässt aber das Horn durchgängig auf dem Ton G liegen, sodass wir statt dem erwartbaren Wechsel in einem Septakkord enden. Das Wechselspiel wiederholt sie noch einmal, bevor sie die Melodie dann in die Haupttonart C-Dur weiterführt – die Folge ist ein (durch kurzfristig suggerierte Vermollung) strahlender Aufhellungseffekt, den sie hier auch nicht ruhen lässt, sondern richtig inszeniert.
Wie es sich gehört, wird das ganze einmal wiederholt, weil es so schön war. Erst dann dürfen auch Trompeten und Pauken hinzupreschen und das Orchester in ein furioses Treiben führen. Geradezu tänzerisch sausen hier die Streicher vor sich hin – angetrieben durch die steten Blechbläserstöße. Wüsste man nicht, dass das Fanny komponiert hat, man könnte es für ein Original ihres Bruders Mendelssohn-Bartholdy halten. Geübte Ohren könnten sogar auf die Idee kommen, hier Anklänge von Beethoven (Coriolan) wahrzunehmen. Da hat jemand von den ganz Großen gelernt.
Auch die motivische Arbeit erscheint plastisch und nachvollziehbar. Obwohl im ganzen Orchester durchgehend Bewegung ist, gibt es keine Momente, die irritieren oder in denen man den Faden verliert. Was diese Musik zum Ausdruck bringt, ist eine durchstrukturierte und klare Arbeitsweise an einem Thema, zu dem der Bezug bis zum strahlenden Finale deutlich bleibt. Obwohl dieses Werk nur wenige Minuten lang ist, ist es doch ein Ausrufezeichen, das sich in jedem klassisch/romantisch orientierten Programm unterbringen ließe. Höchste Qualität!
Leider gelang Fanny Hensel trotz Fertigkeiten und Können Zeit ihres Lebens nie der Druchbruch an die breite Öffentlichkeit. Das Maximum erreichte sie durch ihre Sonntagsmusiken in Berlin, wo sie oft selbst vor Publikum performte oder dirigierte. Und dies gegen Widerstände in ihrer eigenen Familie. So wird von ihrem Vater die Aussage berichtet, ihr Komponieren könne „nie mehr als Zierde“ sein. Und weiter: „Nur das Weibliche ziert und belohnt die Frauen“. Damit ist es keine Überraschung, dass sie es nie auf eine größere Bühne brachte. Alleine wegen ihres Geschlechts hatte sie nie die Chance, ernstgenommen zu werden.
Kein Wunder also, dass es bisher vor allem Lieder waren, die von ihr der Nachwelt erhalten blieben, galt diese Gattung doch als traditionell „weiblich“. Auch sie selbst monierte, dass – trotz privater Unterstützung durch ihren Bruder – „kein Hahn“ nach ihrer Musik krähen würde. Was sich da noch an Schätzen unter ihrem Namen verbirgt, lässt sich nicht ausmalen. Aber zumindest kann man es anhand von Funden wie dieser Ouvertüre in C-Dur erahnen.
Die tragische Misserfolgs-Geschichte von Fanny Hensel muss man damit als bedauerliche Folge Jahrhunderte langer Unterdrückung von Frauen in Europa verstehen. Man möge sich nur einmal vorstellen, sie wäre nicht die Schwester eines bekannten Komponisten gewesen. Oder Mendelssohn-Bartholdy und ihr Ehemann hätten nicht über ihren Tod hinaus auf die Veröffentlichung einiger Werke hingearbeitet. Wäre ihre Musik – selbst so herausragende Werke, wie diese Ouvertüre – heute weiterhin vergessen? Wie die Musik von wahrscheinlich zahlreichen anderen Frauen?
Dieses eine Werk illustriert exemplarisch, dass musikalische Qualität nichts mit dem Geschlecht des Komponierenden zu tun hat. Fanny Hensels Musik steht der ihres Bruders in nichts nach und kann sich auch mit der von anderen Zeitgenossen messen lassen. Ist der Umstand, dass sie trotzdem so unterrepräsentiert ist, nicht auch ein Zeichen dafür, wie chauvinistisch diese Kulturbranche über Jahrhunderte war und dass es hier noch viel aufzuarbeiten gibt? Fest steht für mich jedenfalls: Fanny Hensel (geborene Mendelssohn) dürfte gerne häufiger im Konzertsaal erklingen.
Daniel Janz, 25. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels vergessene Klassiker (c) erscheint 14-tägig bei klassik-begeistert
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
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