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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Den Kompositionen von Todgeweihten wird regelmäßig eine besondere Aura nachgesagt. Oft religiös oder mystisch gedeutet gibt es viele Beispiele von Todesmusiken, die im direkten Zusammenhang zu einem Leben nach dem Tod, zur Erkenntnis des Himmels und sogar zu Gott persönlich gesetzt wurden. Prominente Beispiele wären hier unter anderem Strauss vier letzte Lieder, Gustav Mahlers letzte 3 sinfonischen Werke, Brahms vier ernste Gesänge oder auch Süßmayers Requiem an Mozart. Eine Liste, die – wie es scheint – nur den „größten Meistern“ vorbehalten bleibt; den alten, weißen, männlichen „Genies“. Was aber, wenn diese Liste nicht nur unvollständig, sondern auch frauenfeindlich ist? Lernen Sie mit mir zusammen das Werk von Lili Boulanger kennen, die – wäre sie nicht eine viel zu jung gestorbene Frau gewesen – sicher zu den ganz Großen ihrer Zeit gehört hätte.
Die Biografie von Lili Boulanger liest sich wie eine einzige Tragödie. Mit gerade einmal 24 Jahren verstarb die 1893 geborene französische Komponistin nach einem jahrelangen Martyrium in den Wirren des ersten Weltkrieges an chronischer Darmtuberkulose. Eine Krankheit, die durch eine Lungenentzündung im Alter von 2 Jahren ausgelöst worden war und dieses junge Talent ihr Leben lang plagte, bis sie ihr 1918 in Mézy-sur-Seine das Leben raubte. Kurz zuvor noch hatte ihre Familie sie hierhin verlegt, da Paris zu der Zeit von den Deutschen bombardiert wurde.
Dennoch ließ sie sich nie beirren. Schon in frühester Kindheit bestach Lili Boulanger durch ihre musikalische Begabung, lernte bei Gabriel Fauré und gewann so auch Kontakt zu anderen Komponisten ihrer Zeit – allen voran Maurice Ravel. Ihre ersten Auftritte erlebte die zu der Zeit bereits fließend Deutsch, Russisch und Italienisch sprechende Lili in 1901. Die ersten Aufführungen ihrer Musik folgten nur wenig später in 1904. Mit 18 Jahren dann trat sie zum begehrten Prix de Rome an, den ihr Vater bereits 1835 gewonnen hatte – nur um wegen ihrer Krankheit zusammenzubrechen und abbrechen zu müssen. Ein Jahr später kehrte sie zurück und gewann als erste Frau überhaupt mit ihrer Kantate „Faust und Hélène“.
Man merkt also, die zwei Gegensätze Schaffenskraft und Tod bildeten die treibenden Kräfte ihres Lebens. Dementsprechend verwundert es nicht, dass besonders aus ihren letzten Tagen ein reichhaltiger kompositorischer Nachlass erhalten ist. Besonders umfangreich im Hinblick auf religiöse Gesänge – den drohenden Tod stets vor Augen finden sich hier zahlreiche Psalmen, Lieder und sogar Messgesänge, die in ihrer impressionistischen Tonsprache wegweisend waren und weiterhin sind. Doch auch sinfonische Werke hinterließ sie, von denen ihr letztes und beeindruckendstes Stück hier kurz vorgestellt werden soll: „D’un soir triste“ aus dem Jahr 1918.
Diese Musik in Worte zu packen tut einem Werk, das so sehr ergreift, eigentlich Unrecht. Die ersten Töne saugen einen bereits in eine Welt der Klage und Schmerzen. Eine in Musik gegossene Statik breitet sich aus, die wie ein Wurzelgeflecht immer wieder durch zärtliche Holzbläsereinwürfe durchzogen wird. Ein unglaublich vielschichtiger Klang, der keine Richtung kennt, sondern fortwährend aus dem Grundrhythmus heraus in kaskadenartigen Wellen auszubrechen versucht und dann wieder zurück zum tröstlichen Hauptthema findet, das wie eine Chiffre der Klarheit gegen das Leid anspielt.
Die Tonsprache schreit hier richtig nach Mahlers neunten Sinfonie, aber Lili Boulangers Musik ist vielschichtiger und kondensierter. Es herrscht eine so enorme sinnliche Vielfalt vor, dass man eher von einem Wechselbad der Gefühle quer durch das Tal der Qualen sprechen muss. Als Zuhörer rollt es einem regelrecht die Zehennägel hoch, als nach nicht einmal 4 Minuten das Tamtam einen schrecklichen Schmerzensschrei des Orchesters in eisige Stille überführt, die unvermittelt von Paukengrollen wie zu einem Tribunal durchzogen wird.
Die darauffolgende Phase mit Solo-Streichern, Harfe und Celesta hat dann schon etwas Sphärisches. Sie leitet die Rückkehr in das Hauptthema ein, das sich bis zum furchterregenden finalen Schrei aufbäumt. Und obwohl dies dieses Werk bereits abrundet, findet Lili Boulanger in den letzten Klängen sogar noch einmal zu einem verklärten Ende. Das alles in nicht einmal 10 Minuten Musik – ganz große Kunst.
Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, hält man sie für ein unentdecktes Werk des späten Ravels oder möglicherweise für eine der reifen Kompositionen Strawinskys. Allein im Vergleich wird deutlich: Lili Boulanger konnte in ihrer Ausdrucksvielfalt und musikalischen Sprache mit den ganz Großen locker mithalten – selbst in ihren schwächsten Stunden. Für ihre letzten Stücke – so auch dieses hier – war sie bereits zu krank, sie selbst niederzuschreiben. Auf dem Sterbebett liegend musste sie diese stattdessen ihrer Schwester Nadia diktieren. Nadia Boulanger ist es auch zu verdanken, dass Lili Boulanger nicht gänzlich in Vergessenheit geraten ist.
Was dadurch von ihr erhalten blieb, sind eine Reihe atemberaubender Kompositionen, ganz im Zeichen ihrer letzten Tagebucheinträge und Skizzen stehend. Und es hätte noch so viel mehr sein können. Vieles konnte sie nicht mehr zu Musik verarbeiten. So lautet einer ihrer letzten Notentexte, der wohl zeitgleich zu diesem Werk entstand (frei übersetzt): „Ich habe Schmerz in meinem Rücken, Schmerz, kleine Schmerzensstiche, Schmerz im ganzen Rücken. Ich kann nicht ausgehen, denn es regnet. Jetzt ist mir heiß, ich friere nicht mehr. Aber es ist zu heiß… fühle mich vielmehr krank. Armes kleines Ding. Warum bin ich immer in Schmerz? Es ist nicht fair, armes kleines Ding. So klein – stets zu heiß, stets zu kalt. Das ist mein Los.“
Als ich diesen Beitrag konzipierte, war mir nicht bewusst, dass er für unser Autorenteam einen ganz aktuellen Bezug haben wird. Ursprünglich ging es mir darum, eine grandiose und dennoch vergessene sowie vom Schicksal geschlagene Komponistin zurück ins Gedächtnis zu rufen. Nun aber trifft die Verbindung zwischen dieser Musik und dem Tod auf den realen Tod eines mir zwar wenig bekannten aber dennoch geschätzten Kollegen.
Dessen Angehörigen gelten alles Beileid und unsere Gedanken. Auch, wenn diese Musik einer ihrerseits im Todeskampf liegenden jungen Frau solch einen Verlust sicher nicht wiedergutmachen kann, so kann sie vielleicht wenigstens dabei helfen, den damit verbundenen Schmerz zu verarbeiten.
Denn trotz aller Trauer und allem Schmerz schimmert bei Lili Boulanger auch immer wieder Hoffnung wie ein zartes Pflänzchen durch, das jede noch so große Katastrophe überdauert. Und Hoffnung ist es letztendlich, die allen Schmerz lindern kann.
Daniel Janz, 4. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels vergessene Klassiker Nr 5: Fanny Hensel klassik-begeistert.de
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