Spätromantik trifft Moderne

4. Philharmonisches Konzert in der Elbphilharmonie, Joanna Freszel, Sopran Andrey Boreyko, Dirigent   Elbphilharmonie, 18. Dezember 2022

Foto: Elbphilharmonie © Jolanta Łada-Zielke

4. Philharmonisches Konzert in der Elbphilharmonie am 18. Dezember 2022

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Joanna Freszel, Sopran
Andrey Boreyko, Dirigent

Kancheli / Lokschin / Mahler

von Jolanta Łada-Zielke

Im großen Konzertsaal der Elbphilharmonie steht vor dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg ein in der Sowjetunion geborener Dirigent. Die Künstler aus seinem Land komponierten drei der an diesem kalten Dezembersonntag aufgeführten Werke, die die verschiedenen Phasen der Moderne in der Musikgeschichte repräsentieren. Eine sechs Jahre vor der Wende geborene polnische Sopranistin tritt ebenfalls auf. Ist dies ein Zusammentreffen zweier verschiedener Welten, fragt sich die Autorin dieser Zeilen, deren Kindheit und Jugend mit der kommunistischen Zeit in Polen zusammenfiel? Auch wenn ich irgendwelche Zweifel habe, zerstreuen diese bereits die ersten Bewegungen von Andrey Boreykos Händen.

Zu Beginn des Konzerts erklang ein Stück des vor drei Jahren verstorbenen georgischen Komponisten Giya Kancheli (oder Kantscheli). Dies sind „Morgengebete“ aus dem Zyklus „Leben ohne Weihnacht“. Dieses Werk ist voll von Kontrasten in Farbe, Dynamik und Besetzung. Das Orchester hat sie alle großartig herausgearbeitet: vom verträumt-vernebelten Piano bis zu entrückten Passagen, wie abgebrochenen, verzweifelten Schreien. Die Knabenstimme aus dem Tonband, die zwei Verse des Psalms 130 singt, unterstreicht noch mehr den tragischen Eindruck des Stücks. Das Flöten- und Klaviersolo klingen großartig, wie die Sonnenstrahlen, die versuchen, durch eine dichte Wolkenmasse zu brechen; auch durch Klangeffekte aus den Saiten des Flügels.

Nach der Vervollständigung der Besetzung durch mehrere Blasinstrumente und Schlagzeug fing die Aufführung von „Lieder der Margarete“ aus Drei Szenen aus Goethes „Faust“ von Alexander Lokschin an. Die Kenntnis von „Faust“ sowie vom „Gretchen am Spinnrad“ ist hier erwünscht, obwohl das Programmheft die Übersetzung des russischen Textes enthält; andernfalls hätte man die ganze Tragik der Figur Margarete nicht verstanden. Der Text von Boris Pasternak beschreibt traumatische Kindheitserinnerungen, die sich auf die tragische Gegenwart auswirken, und die schmerzliche Sehnsucht der Protagonistin nach ihrem Geliebten. Das Melo-Recitativ spielt in diesem aleatorischen Stück die größte Rolle. Die Solistin Joanna Freszel, die unseren Lesern bereits bekannt ist, verfügt über eine perfekte Aussprache. Jedes Wort, das sie singt, ist deutlich zu hören, selbst in den äußersten Lagen. Die Partitur liegt vor ihr auf dem Notenständer, so dass die Sopranistin freie Hände hat, mit denen sie ausdruckhaft gestikuliert. Sie agiert souverän und sehr authentisch. Ihre Stimme zeichnet sich durch eine reife Tiefe und gleichzeitig durch eine jugendliche Frische aus. Man hört sie perfekt vor dem Hintergrund des großen Orchesters.

Joanna Freszel © fot. Anna Konieczna-Purchała

In der atonalen Melodie sind slawische Motive und durch die Einsätze des Schlagzeugs betonte Dramatik zu spüren. Zum Schluss macht es ein Geräusch, als ob etwas völlig auseinanderfallen würde, und geht auf das maximale Pianissimo zu.

Im zweiten Teil des Konzerts führt das Orchester Gustav Mahlers symphonischen Satz „Blumine“, ein spätromantisches Werk, auf. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg schafft einen passenden Rahmen für die hervorragenden Solisten: Trompete- und Klarinette-Spieler. Die Krönung des Konzerts bildet die Symphonie Nr.1 f-Moll Op. 10. von Dmitri Schostakowitsch. Hier zeigt das Orchester seine ganze Kunstfertigkeit und beweist, dass es sowohl in kammermusikalischer als auch in symphonischer Besetzung hervorragend spielen kann. Alle Allegro-Teile verlaufen ausdrucksvoll, stürmisch und gleichzeitig präzise. Das Pizzicato der Streicher, die Einsätze der Trompete und des Klaviers klingen großartig. Im vierten Satz klingen die Streichinstrumente wie ein Bienenschwarm, und die von dem Triangel erzeugten Töne sind wie fallende Honigtropfen.

Die Dramatik dieser Musik, die der Komponist in der schwierigen Zeit seines Lebens schrieb, kommt hier voll zur Geltung. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg widerlegt das Klischee, dass nur slawische Künstler die Musik aus diesem Kulturkreis gut spielen können. Es ist aber gut, dass ein Dirigent mit russischen Wurzeln am Pult steht und das Ensemble in diese Welt einführt. Andrey Boreyko dirigiert, als hätte er sich um jeden Musiker einzeln gekümmert.

Das Publikum wirkt gebildet und klatscht nicht zwischen den einzelnen Sätzen. Eine große Anerkennung verdienen die Autoren der Programmhefte, die, unter der Redaktion von Janina Zell, sowohl die Interpreten als auch die aufgeführten Werke und ihre Schöpfer ausführlich vorstellen. Allerdings sind viele Zuschauer offensichtlich erkältet, was den Genuss ein wenig stört. In der Akustik der Elbphilharmonie klingt jeder Husten wie ein Kanonenschuss.

An diesem frostigen Dezembermittag hatte das Konzert eine wärmende und erfrischende Wirkung auch auf diejenigen, die in einen Winterschlaf sinken mochten. Die musikalische Begegnung zweier scheinbar unterschiedlicher Welten verlief reibungslos, präzise und bewegend. Ich würde dieses Programm um ein Stück von Mieczysław Weinberg ergänzen.

Jolanta Łada-Zielke, 20. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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