Mein Herz verliere ich in Krieg und Frieden an den Chor

KRIEG UND FRIEDEN (WOINA I MIR) Oper in 13 Bildern (1946)  Nationaltheater, München, 05. März 2023 PREMIERE

Foto: KRIEG UND FRIEDEN 2023,  A. YANGEL O. KULCHYNSKA © W. Hoesl

KRIEG UND FRIEDEN (WOINA I MIR)
Oper in 13 Bildern (1946)

Eine Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona

Komponist Sergej S. Prokofjew. Libretto von Sergej S. Prokofjew und Mira A. Prokofjewa nach dem gleichnamigen Roman von Lew N. Tolstoi.
In russischer Sprache. Mit Übertiteln in deutscher und englischer Sprache. Neuproduktion.

Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor und Zusatzchor der Bayerischen Staatsoper

Musikalische Leitung   Vladimir Jurowski
Inszenierung und Bühne   Dmitri Tcherniakov

Nationaltheater, München, 05. März 2023 PREMIERE

von Frank Heublein

An diesem Abend wird Prokofjews Oper Krieg und Frieden erstmals in München aufgeführt. Prokofjew vertont den gleichnamigen Roman Lew N. Tolstois. Ein monumentales Werk mit siebzig Solisten und Solistinnen, Chor und Extrachor.

Mein emotionaler Star des Abends ist der Chor. In den drei Szenen, die er dominiert, füllt der Chor, Extrachor und schauspielende stumme Statisten die gesamte Bühne. Diese Szenen sind bombastisch. Das Orchester spielt im Fortissimo. Die Kraft des Chorgesangs drückt mich in meinen Sitz. Es sind die für mich emotional eindrucksvollsten des Abends, allesamt in den fünf „Krieg“ Bildern, die nach der Pause aufgeführt werden. Kriegsbeginn, marodierende Truppenteile und der der Moskauer Brand. Unterstützt wird der Chor durch das überbordende Orchester.

Nach der Pause werden unmittelbar zu Beginn wie Blitz und unmittelbar folgender Donner eines über mir stehenden Gewitters Chor und Orchester zum monströsen Wachmacher. Das Epigramm zwischen 7. und 8. Bild ist schmetternde Wucht, für mich die mitreißendeste Szene der gesamten Oper. Die Szene haut mich auch deswegen um, da sie über eine die Oper hinausreichende für mich sehr schmerzende Zeitaktualität hat.

In der finalen Szene übernimmt das Orchester. Zusätzlich zu den Musikern im Graben spielt ein etwa zehnköpfiges Bläserensemble auf der Bühne. Das Orchester wird extrem laut, bleibt dabei klar akzentuiert, feiert den Sieg gegen die Franzosen. Berauschend.

Krieg und Frieden 2023 © W. Hoesl

Im Orchesterklang dieses Abends höre ich Klarheit. Sie ist außergewöhnlich, wirkt auf mich sehr besonders und ist konsequent über das gesamte Stück zu vernehmen. Wenn Solisten und Solistinnen auf der Bühne singen, unterstützt das Orchester zurückgenommen. Im letzten Bild des ersten „Frieden“ Teils formt das Orchester in einem Solo des Grafen Pierre Besuchow einen seltenen eigenen emotionalen Ausdruck, der nicht etwa die Solostimme unterstützt, sondern über die einzelne Person hinausweist.

In der Oper Krieg und Frieden wird die orchestrale Emotionalität im ersten Teil nur dann hörbar, wenn ein Bild zu Ende geht und die Stimmen verstummt sind. Im zweiten Teil dreht sich das, wenn es nicht mehr nur um einzelne Schicksale, sondern um das vieler, einer ganzen Nation geht. Die Anlage des Librettos zeigt keinen durchgehenden emotionalen Faden einer einzelnen Person. Natascha ist im ersten Teil in fast allen Bildern handelnde Person. Der zweite Teil dagegen fokussiert erst wieder im vorletzten Bild die Beziehung zwischen Andrej und Natascha. Vorher werden in den Bildern Kriegsszenen, die Massenschicksale verhandeln, gezeigt.  Kennzeichnender Weise werden im vorletzten Bild die Einzelschicksale zu Ende erzählt, stirbt mit Andrej eine Hauptperson. In vielen Opern wäre das der dramatische finale Höhepunkt. Hier nicht. Einzelne sind dem Komponisten und Librettisten nicht so wichtig wie die Gruppe der vielen. Daher erzählt das letzte Bild vom Massenschicksal, dem Sieg gegen die Franzosen.

Der erste Teil, der durch Einzelpersonen gesteuert wird, plätschert episch erzählend dahin. Das Orchester unterlegt sehr zurückgenommen den – großartig vorgetragenen – Gesang der Personen. Dennoch überträgt sich mir selten packende Emotionalität. Ganz anders im zweiten Teil, der außer im vorletzten Bild von Massenschicksalen erzählt. Da packt mich die Musik mit allen emotionalen Fasern.

Krieg und Frieden 2023 © W. Hoesl

Ist es die ideologische Steuerung der Partei, die Prokofjew dazu veranlasste, diese klare orchestrale Unterscheidung vorzunehmen? Ist es Ausdruck des Konzepts, dass sich aus dem Verständnis Tolstois und seines Werkes entwickelt, wie das Schicksal vieler beispielhaft anhand einzelner erzählt wird? Oder ist es ganz einfach musikalische Konzeption, um die Gegensätze prägnant herauszuarbeiten? Wer weiß? Meine musikalische Wahrnehmung unterscheidet jedenfalls konsequent deutlich einzelne von vielen.

Krieg und Frieden 2023 © W. Hoesl

70 Solisten und Solistinnen stehen auf der Bühne. Alle, ausdrücklich alle! überzeugen mich stimmlich.  Eine fantastische Leistung! Welch extrem breite und zugleich hohe Qualität. Auffällig ist mir die zu jeder Zeit von allen Beteiligten prononcierte deutliche Aussprache, wenngleich ich ob meiner fehlenden Russischkenntnissen auch einem Trugschluss erliegen könnte.

Krieg und Frieden 2023 © W. Hoesl

Bariton Andrei Zhilikhovsky spielt seinen Andrej als sinnierenden, kritischen und verzweifelten Menschen. Aus seiner Stimme höre ich diese Nachdenklichkeit, das Überlegen und das Überlegte heraus. Seine Stimme verleiht dem Charakter sehr überzeugend und mannigfaltig Charakter. Sopranistin Olga Kulchynska zeigt ihre schauspielerischen Qualitäten gleich zu Anfang im ersten Bild. Ihre Stimme ist warm und klar, transportiert viel Gefühl, egal ob Verzweiflung oder Glück. Tenor Arsen Soghomonyan überzeugt mich als Graf Pierre Besuchow auf ganzer Linie. Eine kräftige geradezu stramme Stimme, die wie mir scheint über endlose Kraftreserven verfügt.

Regisseur Dmitri Tcherniakov wählt als Umgebung einen großen Saal. Dieser Rahmen wird ein wenig an die Bilder angepasst, nicht sehr viel. Die Massen an Darstellern bewegen sich zuweilen nicht von der Bühne, sondern legen sich einfach in die Horizontale auf den Boden „schlafen“. Das ist sehr gut, denn dieser inszenatorische Ansatz lässt die dreieinhalb Stunden Nettospielzeit lange Oper fließen.

Krieg und Frieden 2023 © W. Hoesl

Ein Werk, dass mich besonders im Teil nach der Pause anfasst, anrührt und mitnimmt. Begeisternder Applaus brandet am Ende für alle Beteiligten auf. Bei so vielen Solisten dauert der erste Vorhang. Der Applaus bleibt konstant stark. Als Arsen Soghomonyan vors Publikum tritt, bemerke ich ein Anschwellen. Er ist der Stärkste unter den Starken bei den Solisten und Solistinnen. Die Power des Chors, stimmlich wie emotional, ist aus meiner Sicht das Prokofjewsche musikalische Machtzentrum Zentrum der Oper, das mir den Atem verschlägt.

Frank Heublein, 06. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung

Musikalische Leitung   Vladimir Jurowski

Inszenierung und Bühne   Dmitri Tcherniakov

Kostüme   Elena Zaytseva

Licht   Gleb Filshtinsky

Kampfcoach   Ran Arthur Braun

Chöre   David Cavelius

Konzeptionelle Mitarbeit   Analena Weres

Dramaturgie   Malte Krasting

Fürst Andrej Bolkonski   Andrei Zhilikhovsky

Natascha Rostowa   Olga Kulchynska

Sonja   Alexandra Yangel

Gastgeber des Silvesterballs   Kevin Conners

Lakai des Silvesterballs   Alexander Fedin

Marja Dmitrijewna Achrossimowa   Violeta Urmana

Peronskaja   Olga Guryakova

Graf Ilja Andrejewitsch Rostow   Mischa Schelomianski

Graf Pierre Besuchow   Arsen Soghomonyan

Gräfin Hélène Besuchowa   Victoria Karkacheva

Anatol Kuragin   Bekhzod Davronov

Leutnant Dolochow   Alexei Botnarciuc

Ein alter Lakai der Bolkonskis   Christian Rieger

Stubenmädchen der Bolkonskis   Emily Sierra

Kammerdiener der Bolkonskis   Martin Snell

Fürstin Marja Bolkonskaja   Christina Bock

Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski   Sergei Leiferkus

Balaga   Alexander Roslavets

Matrjoscha   Oksana Volkova

Dunjascha   Elmira Karakhanova

Gawrila   Roman Chabaranok

Métivier   Stanislav Kuflyuk

Französischer Abbé   Maxim Paster

Denissow   Dmitry Cheblykov

Tichon Schtscherbaty   Nikita Volkov

Fjodor   Alexander Fedorov

Matwejew   Sergei Leiferkus

Wassilissa   Xenia Vyaznikova

Trischka   Solist(en) des Tölzer Knabenchors

Michail I. Kutusow   Dmitry Ulyanov

Kaisarow   Alexander Fedin

  1. Stabsoffizier   Liam Bonthrone
  2. Stabsoffizier   Csaba Sándor

Napoleon   Tómas Tómasson

Adjutant des Generals Compans   Alexander Fedorov

Adjutant Murats   Alexandra Yangel

Marschall Bertier   Stanislav Kuflyuk

General Belliard   Bálint Szabó

Adjutant des Fürsten   Eugène Granit Musliu

Stimme hinter den Kulissen   Aleksey Kursanov

Adjutant aus dem Gefolge Napoleons   Thomas Mole

De Beausset   Kevin Conners

Hauptmann Ramballe   Alexander Vassiliev

Leutnant Bonnet   Aleksey Kursanov

Hauptmann Jacqueau   Csaba Sándor

Gérard   Liam Bonthrone

Ein junger Fabrikarbeiter   Granit Musliu

Händlerin   Olga Guryakova

Mawra Kusminitschna   Xenia Vyaznikova

Iwanow   Alexander Fedorov

Marschall Davout   Bálint Szabó

Ein französischer Offizier   Andrew Hamilton

Platon Karatajew   Mikhail Gubsky

Zwei Gottesnarren   Kevin Conners, Christian Rieger

Zwei französische Schauspielerinnen   Jasmin Delfs, Jessica Niles

Spielzeitpräsentation der Bayerischen Staatsoper für die Spielzeit 2023/24 mit Serge Dorny, Vladimir Jurowski und Laurent Hilaire Bayerische Staatsoper, München, 04. März 2023

Rückblick: München/Bayerische Staatsoper: „Lohengrin“ – Premiere am 3. Dezember 2022

Richard Wagner, Lohengrin Bayerische Staatsoper, 7. Dezember 2022 

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