MANON
Opéra comique in fünf Akten
Wiener Staatsoper, 7. Mai 2023
von Dr. Rudolf Frühwirth
Die aktuelle Produktion der „Manon“ von Jules Massenet in der Wiener Staatsoper hatte bereits 2007 Premiere. Pretty Yende, die in der gerade laufenden Serie die Manon singt, kann auf eine erlauchte Reihe von Vorgängerinnen zurückblicken, von Anna Netrebko über Diana Damrau und Patricia Petibon bis Marlis Petersen. Um es gleich vorwegzunehmen: Pretty Yende braucht den Vergleich mit diesen illustren Sängerinnen nicht zu scheuen. Doch alles der Reihe nach!
Die dramatische Konstruktion der Oper ist raffiniert – es wechseln Szenen in der Öffentlichkeit mit intimen Szenen ab. Auf den Bahnhof folgt die Wohnung des Chevaliers, dann das Fest im Cours de la Reine, weiters das Innere einer Kirche, gefolgt von der Spielhölle, und schließlich eine einsame Straße zum Hafen, in dem die deportierten Mädchen eingeschifft werden. Die Musik ist ebenso abwechslungsreich wie die Handlung und genau angepasst an die jeweilige Situation. Das Orchester unter der Leitung von Bertrand de Billy, gemeinsam mit dem Chor der Wiener Staatsoper, brachte sie klangschön zu Gehör.
Die Inszenierung von Andrei Serban ist im besten Sinn konservativ, ohne deswegen altmodisch oder historisierend zu sein. Die Ausdeutung der Beziehung zwischen den Protagonisten, Manon und der Chevalier Des Grieux, steht klarerweise im Mittelpunkt, ohne jedoch die ebenfalls wichtigen Nebenfiguren zu vernachlässigen. Der Zeitpunkt der Handlung ist eine unbestimmte nahe Vergangenheit. Ich finde das sehr überzeugend; schließlich sind die Konflikte um Liebe, Treue, Gier und Verrat heute nicht weniger aktuell als in der Entstehungszeit der literarischen Vorlage vor fast 300 Jahren. Die Personenführung geht im Einklang mit dem wechselnden Charakter der Musik und ist mitunter akrobatisch zugespitzt, in den heiteren Szenen mit leicht parodistischen Elementen. Es ist offensichtlich, dass der Regisseur die Partitur sehr genau studiert hat.
Das Bühnenbild ist erfreulich minimalistisch, unterstützt durch suggestive Projektionen. In den intimen Szenen zwischen Manon und Des Grieux, d.h. im zweiten, vierten und sechsten Bild, ist nur wenig Mobiliar auf der Bühne, und umso intensiver ist die Interaktion der Protagonisten gestaltet. Besonders gelungen finde ich die Szenerie des fünften Bildes, der Spielhölle, die durch einen geschickt angeordeten Spiegel den Zuschauern den Blick von oben auf die Spieltische erlaubt. Die Kostüme zeigen sehr klar die jeweilige soziale Position der Darsteller, sind aber unbestimmt genug, um die Zeitlosigkeit der Handlung zu unterstreichen.
Pretty Yende hat mich als Manon darstellerisch wie sängerisch durchgehend überzeugt. Ihr zur Seite stand der amerikanische Tenor Charles Castronovo als der Chevalier Des Grieux. Im zweiten Bild haben sowohl Manon als auch Des Grieux zwei eindrucksvolle lyrische Momente. Sie nimmt – bereits entschlossen zum Verrat des Geliebten – Abschied von seiner bescheidenen Wohnung, er erzählt einen Tagtraum, einen Traum vom Paradies. Yende gestaltete ihren Abschied sehr rührend, während Castronovo mir in seiner Erzählung weniger gefiel – zu glanzlos war sein Tenor in den langen verhaltenen Passagen. Im dritten Bild hat Manon einen großen Auftritt, in dem Yende mit etlichen Spitzentönen brillierte. Im vierten Bild lief dann auch Castronovo zu Hochform auf. Sein Monolog zu Beginn und vor allem die dramatische Auseinandersetzung mit Manon in der Kirche war höchst eindrucksvoll gesungen. Im letzten Bild schließlich, in dem Manon in den Armen des Chevaliers stirbt, haben mich Yende wie Castronovo vorbehaltlos begeistert.
Die beiden Protagonisten werden von einer kleinen Schar von Nebendarstellern begleitet. Da ist zunächst Lescaut, Manons Vetter, sehr solide gesungen von Michael Arivony. Die beiden Nebenbuhler des Chevaliers sind de Bretigny, tadellos gesungen von Martin Häßler, und Guillot de Morfontaine. In dieser Rolle hat mir Andrea Giovannini darstellerisch sehr gut gefallen, sängerisch nicht ganz so gut. Es bleibt noch der Vater des Chevaliers zu erwähnen, eindrücklich gespielt und gesungen von Dan Paul Dimitrescu, sowie drei leichte Mädchen, Miriam Kutrowatz, Stephanie Houtzeel und Daria Sushkova, ebenso angenehm anzusehen wie anzuhören.
Das Werk hat zwei absolute Höhepunkte: die Szene in der Kirche, in der Des Grieux dem Werben Manons nicht widerstehen kann, und die Sterbeszene Manons, in der Des Grieux mit Manons eigenen Worten versucht, sie zum Weiterleben zu ermuntern. Vor einer Projektion des stürmischen Meeres sagt Manon schließlich Adieu zu dieser Welt. Das Meer beruhigt sich, der Mond erscheint am Himmel. Dann fällt der Vorhang und die Weise von Liebe und Tod der Manon Lescaut hinterlässt ein gerührtes Publikum.
Dr. Rudolf Frühwirth, 9. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jules Massenet, Manon Staatsoper Hamburg, 24. September 2022