Hamlet 2023, J. Tomlinson, A. Clayton, J. Imbrailo © W. Hoesl
An diesem Abend findet mit Brett Deans Hamlet im Münchner Nationaltheater die erste Opernpremiere des Münchner Opernfestspielsommers 2023 statt. Die Produktion ist übernommen vom Glyndebourne Festival. Vladimir Jurowski war 2017 bei der Produktion in Großbritannien ebenfalls musikalischer Leiter.
Nationaltheater, München, 26. Juni 2023, PREMIERE
Hamlet
Komponist Brett Dean. Libretto von Matthew Jocelyn nach William Shakespeare.
Oper in zwei Akten (2017)
Hamlet ist eine Produktion von Glyndebourne.
von Frank Heublein
Meine persönliche Gefühlslage, in die mich die Musik versetzt, unterscheidet sich vor und nach der Pause stark. Vor der Pause ist es nervöse Zerrüttung des gehetzten Getriebenseins, dass mich nicht nur in den sehr schnellen Presto Passagen voll erwischt, sondern auch in ruhigeren Momenten nicht verlässt. Etwa wenn Hamlet der Geist seines Vaters erscheint. Ich wähne mich als Sozius Hamlets, der in den Abgrund braust. Streicher in dauerhaft anhaltendem Vibrato. Musikalisch tonal, zuweilen setzen die Instrumentengruppen leicht versetzt ein, die Tonalität wird schief wie die Handlungen, die auf der Bühne ausgeführt werden.
Nach der Pause weicht meine Getriebenheit einer fatalistischen Gewissheit, die ich durch die Musik spüre: ich fühle mich ruhiger, konzentrierter auf dem Schleudersitz des Schicksals. Die Frage ist nicht, ob, sondern nur wann er auslöst – ohne Fallschirm und doppelten Boden.
Stimmlich ist der erste Akt eine permanente Herausforderung für die Sängerinnen und Sänger. Alle müssen fast immer in ihre höchsten Register greifen, häufig in Presto-Geschwindigkeit. Eine grandiose Leistung des gesamten Ensembles. Hamlet sticht hervor, Tenor Allan Clayton singt ihn mit infernalischer Wucht.
Im zweiten Teil brennt sich mir als erstes Ophelias Wahnsinn in die Ohren, Augen und ins Hirn. Sopranistin Caroline Wettergreen singt und spielt diesen tödlichen Wahnsinn schmerzvoll, voller Not und Pein, krass lebensecht. Musikalisch verstärkt wird das mit dem kleinen Chor aus dem Orchestergraben heraus, die das „Never“ Ophelias aus „Never doubt I love“ (Zweifle nie, dass ich liebe) echoen. Vielfach wiederholt wird dieses „Never“ in der Szene. Dieser Satz Hamlets ist der Türöffner zu Ophelias vibrierenden Wahnsinn.
In der Totengräberszene beweist Bass John Tomlinson seine komödiantischen Fähigkeiten. Im ersten Teil als Hamlets Vater habe ich sein dramatisches Können kennengelernt. Als Totengräber gibt er sich furztrocken mit einer unbeirrbaren „direkte Worthaftung“. Wer Shakespeares Drama Hamlet inhaltlich kennt, ist sich des aus den antiken Tragödien dunkel gespiegelten Orakels, des Totengräbers eben, bewusst. Für mich hat diese Szene starkes emotionales Gewicht. Das Orchester spielt recitativo accompagnato. Im Programmbuch definiert Jürgen Schläder dies als „orchestrale Untermalung und Unterstützung einer Figurenrede, die die Handlung vorantreibt“. Die Erinnerung Hamlets an den Hofnarren ist ein intensiv intimer Moment, den ich auf der Bühne erlebe.
Die Schlussszene gerät großartig zu einer musikalisch unterlegten Theaterszene. Musik verschmilzt mit Handlung, ein untrennbares dramatisches Eins. Die Musik transportiert die unterschiedlichen Gefühlslagen. Die Hinterhältigkeit des Claudius’, den Hass Laertes’, den Fatalismus Hamlets, den Mutterstolz Gertrudes, den Schmerz Horatios.
Eine zweite musikalische Ebene ist Shakespeares Sprache. Sie ist klangvoll wie Musik. Komponist Brett Dean und Librettist Matthew Jocelyn verwenden ausschließlich originale Texte aus dem siebzehnten Jahrhundert. Mit der orchestralen Komposition sind es für mich zwei parallele musikalische Lagen, die miteinander harmonieren. Vladimir Jurowski und das Bayerische Staatsorchester spielen mitreißend und konzentriert die gebrochene Tonalität des Werks. Stark wirken die Effekte des gestreuten Chors und Orchesters. Teils von oben, hinten und der Seite entsteht in mir Unheimlichkeit, erzeugt durch die nicht sofort zu identifizierende Herkunft des Klangs.
Die Inszenierung Neil Armfields und die Bühne Ralph Myers unterstützen die Handlung exzellent. Klug konstruiert sind Umbauten während der Szenen möglich und sorgen zusammen mit Jon Clarks Licht für passende räumliche Atmosphäre.
Umfassende Begeisterung im Publikum. Großer Applaus bereits zu Beginn des zweiten Aktes nach der Pause für Jurowski und das Bayerische Staatsorchester. Insbesondere Ophelia alias Caroline Wettergreen und Hamlet gesungen und gespielt von Allan Clayton werden auch von mir stürmisch beklatscht. Shakespeares Sprache erzwingt geradezu, schauspielerisch zu agieren. Es gilt für alle Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne, besonders für die beiden: gesanglich wie schauspielerisch ein Abend von außergewöhnlicher Kraft.
Wie sich ein Staat selbst zerstört: Intrigen aller Orten, alle reagieren impulsiv über und erst im herannahenden Tod sickert die Erkenntnis durch: eine Lösung ist das – für mich und alle anderen – nicht. Ich brauche nicht viel Übertragung, um im politischen und sozialen Heute Parallelen zu finden. Im Stück sagt Hamlet zu Horatio während der Totengräberszene „The rest is… readiness is all“ – Der Rest ist…Bereitsein ist alles. Ich sage das optimistisch für mich und alle anderen Lernwilligen, die Shakespeares Drama für sich ernst nehmen und wie Hamlet doch hoffentlich weniger fatalistisch Notwendiges in die Hand nehmen wollen.
Frank Heublein, 27. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Musikalische Leitung Vladimir Jurowski
Inszenierung Neil Armfield
Bühne Ralph Myers
Kostüme Alice Babidge
Licht Jon Clark
Chor Rustam Samedov
Choreographie Denni Sayers
Fechtszene Nicholas Hall
Dramaturgie Laura Schmidt
Hamlet Allan Clayton
Ophelia Caroline Wettergreen
Claudius Rod Gilfry
Gertrude Sophie Koch
Polonius Charles Workman
Horatio Jacques Imbrailo
Geist/Totengräber/Spieler 1 John Tomlinson
Laertes Sean Panikkar
Rosenkranz Patrick Terry
Guildenstern Christopher Lowrey
Marcellus / Spieler 4 Andrew Hamilton
Spieler 2 Liam Bonthrone
Spieler 3 Joel Williams
Akkordeonist James Crab
Semi chorus rheinstimmen ensemble: Ursula Göller, Julia Hagenmüller, Phillipa Thomas, Eva MartiIlja Aksionov, Gabriel Sin, William Drakett, George Clark
Bayerischer Staatsopernchor
Bayerisches Staatsorchester
Giuseppe Verdi, Otello Nationaltheater München, Münchner Opernfestspiele, 21. Juli 2021
Giuseppe Verdi, Otello, Bayerische Staatsoper, Münchner Opernfestspiele, 15. Juni 2019
Richard Wagner, Tristan und Isolde Bayreuther Festspiele, 25. Juli 2022 (Eröffnung)