Fotos: Andrea Kremper, Yannick Nézét Seguin und das Chamber Orchestra of Europe während eines Konzerts am 7.7.23 im Festspielhaus Baden-Baden
Yannick Nézet-Séguin setzt in Baden-Baden seinen Brahms-Zyklus mit dem Chamber Orchestra of Europe fort
Baden-Baden, Festspielhaus, 7. Juli 2023
Johannes Brahms (1833-1897) – Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90; Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
Chamber Orchestra of Europe
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Den ganzen Freitag habe ich diesen 3:30-Pop-Ohrwurm „I’m gonna be“ von den Proclaimers im Kopf, besser bekannt unter den „Five Hundred Miles“ aus dem Refrain. Der irre Zufall will es, dass ich nach dem dritten Konzert des wunderbaren Yannick-Festivals in Baden-Baden von einer niederländischen Freundin, die derzeit in Florenz weilt, einen Link zu ausgerechnet diesem Lied geschickt bekomme.
Was hat das mit Brahms zu tun? Zunächst mal gar nichts. Aber die Entourage macht Meilen und findet sich zusammen. Zwei Bonner Freunde reisen per Bahn aus dem Rheinland bzw. aus Bukarest an. Die Tochter des einen Freundes und ihr Partner kommen aus dem schönen Freiburg in jene andere schöne Stadt, in der an diesem Wochenende auch eine Menge Oldtimer zu bestaunen sind. (Übrigens ist ein „old-timer“ im Englischen kein Auto, sondern ein Mensch, und zwar ein ziemlich betagter.)
Viel Mobilität also. Und irgendwie trifft sich ohnehin gefühlt ganz Europa in der europäischen „Sommerhauptstadt“. Sinnbildlich dafür auch die internationale Besetzung des wunderbaren Chamber Orchestra of Europe (COE), das mir nicht nur wegen der Frische und Wärme seines Spiels so sympathisch ist, sondern auch, weil man in sehr viele freundliche Gesichter schaut. Das ist dort, wo ich lebe, nicht so irrsinnig verbreitet.
Ob wir nun zu Fuß lange Strecken auf uns nehmen würden, um diesen kanadischen Ausnahmemusiker Yannick Nézet-Séguin zu erleben, darf bezweifelt werden. Man wäre ja auch bei diesen Temperaturen nach der Ankunft im Festspielhaus zumindest olfaktorisch nicht mehr so ganz festspielfrisch. Aber mit Bus und Bahn oder aber in einem Fiat 500 – nicht der Oldtimer – sind 500 Meilen gar nichts: Von Amsterdam und Rotterdam bis Luzern sind ihm einige von uns schon nachgereist, dazwischen viel Dortmund, Köln, Bonn (mit dem Fahrrad), Essen und eben Baden-Baden.
„Brahms should have composed more symphonies“, hatte der Dirigent in der Pressekonferenz vor Beginn der ihm gewidmeten Sommerfestspiele „La Capitale d’Été“ gesagt. Recht hat er. Leider gibt es „nur“ vier. Aber es ist Musik, auf die man immer wieder gerne zurückkommt, die einen ein Leben lang begleitet. Der im letzten Jahr begonnene Brahms-Zyklus mit dem COE biegt an diesem Wochenende in die Zielgerade ein, wie auch das Festival, das am Sonntag endet.
Bevor wir hier gänzlich ausflippen vor Begeisterung: Es war kein perfekter Abend. Aber es war einer, der sehr reich an wunderschönen Details war; ein Abend, an dem einmal mehr im COE Herzenswärme und Leidenschaft überragten, diese herrliche Mischung aus zupackendem Spiel und dem Auskosten leiser Stellen. Da kann dann auch mal eine Trompete ganz kurz kieksen, irgendein Ansatz nicht ganz sauber sein: Wen stört’s? Der Gesamtklang ist ein außerordentlich guter.
Und wie so oft in guten Konzerten entdeckt man in bekannten Werken Neues. Wie gut Brahms doch in der 3. und 4. Sinfonie für Holzbläser komponiert hat! Die Dritte beginnt, da sind wir uns einig, nicht so ganz befriedigend, man kann es gar nicht so genau definieren, aber dann kommt rasch dieser Moment, auf den ich warte, seit ich sie in Hamburg unter YNS hörte: diese Durchführung, die er so fantastisch dirigiert, die vier Bässe pumpen los, stürmische Wellen, tosende Wogen, es ist eine unglaubliche Leidenschaft, die dieser romantischen Musik sehr gut zu Gesicht steht. Ebenso wie die Gegenüberstellung der ersten und zweiten Violinen, übrigens „europäische Aufstellung“ genannt.
„Jeder Satz ein Juwel“, schrieb Clara Schumann dem Komponisten zu dessen Dritter. Wunderbar das C-Dur-Solo der Klarinette im zweiten Satz; dann die Celli und das Solo-Horn (Jasper de Waal) im dritten, es klingt wie eine Liebeserklärung, immerhin hat Yves Montand zu dieser Melodie „Quand tu dors près de moi“ gesungen; und im vierten sind wir wieder im Wogemodus, die zwei-gegen-drei-Bewegung bringt uns in Wallung, bevor das Anfangsthema des ersten Satzes – ein genialer Kunstgriff – die Sinfonie still verklingen lässt.
Das Publikum wartet, bevor es begeistert bis ergriffen Applaus spendet. Es sind intensive 40 Minuten, was auch daran liegt, dass Yannick die Sätze nahtlos ineinander übergehen lässt. So könnte man es sogar in Köln aufführen: Die dortigen Huster wären machtlos.
Die Vierte schließlich, von der es so viele tolle Aufnahmen gibt – stellvertretend seien Bernstein, Karajan und vor allem der große Carlos Kleiber genannt; zudem war sie Bestandteil der letzten Konzertprogramme von Mariss Jansons – ging „mit innigster Empfindung“ los. Auch hier dirigiert Yannick Nézet-Séguin auswendig, ganz im Dialog mit dem ihm so vertrauten Orchester. Zügig, doch stets transparent, obgleich er in der h-Moll-Stelle der Celli im Kopfsatz das Tempo noch einmal anzieht: Es ist nicht das Tempo des Beginns. Dafür lebt die Musik, ist selbstredend nie statisch.
Wieder geht es nahtlos in den zweiten Satz, und wieder sind Hörner und Klarinette auf Zack, es klingt formidabel. Kurze Hustpause vor dem Scherzo, das in seinem wie trunken jauchzenden C-Dur und dem so tollen Farbenreichtum – Kontrafagott, Triangel! – fast zu schnell vorübergeht, um genossen zu werden. Aber eben nur fast. Es ist aufwühlend. Und was soll man zum letzten Satz sagen? Vielleicht dies: Glück für alle im Saal, dass Clara Andrada de la Calle, diese so wunderbare Flötistin aus Salamanca, mit dem COE in Baden-Baden ist, anstatt mit ihrem anderen Orchester, dem HR-Sinfonieorchester, in Colmar. Ihr Solo, eine notorische „Vorspielstelle“, war zum Heulen schön. Und beileibe nicht unerwähnt bleiben soll auch die himmlische Posaunen-Variation.
An diesem Abend erlebten wir ganz besonders anschaulich, bzw. anhörbar, wie Musik aus dem Augenblick entsteht. Das Mysterium Dirigieren wird wohl nie zu erklären sein. Aber die Leidenschaft des Musizierens, die sichtbare Freude am Beitragen zur Entstehung von Musik, all das konnte man spüren, sehen, hören. Yannick Nézet-Séguin ist einer der charismatischsten Musiker, die wir haben. Ein mediokres Konzert, geschweige denn ein schlechtes, scheint es mit ihm nicht zu geben. „Es war, als ob er tanzen würde“, so die Tochter meines Freundes.
Ganz unauffällig-untänzerisch hingegen die Kameraleute, die den Abend mitschnitten, dafür ein großes Lob.
Und nach dem kammermusikalischen Samstagskonzert (u.a. mit Yannick als Pianist im Brahms’schen op. 34) geht es am Sonntag weiter mit dem Brahms’schen Violinkonzert (Solistin ist Lisa Batiashvili) und einer Sinfonie von Louise Farrenc. Es wäre dem Festival zu wünschen, wenn kurzfristig noch einige Karten verkauft würden.
Die Proclaimers sind übrigens eine schottische Band. Bei den Schotten läuft es gut in der Qualifikation für die EM im kommenden Jahr. Vielleicht wechsle ich die Seiten, denn mit meinem Heimatland Irland wird das wohl wieder nix. Oder ich höre einfach mehr Brahms.
Dr. Brian Cooper, 8. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
The MET Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Baden-Baden, Festspielhaus, 2. Juli 2023
Gala-Konzert 25 Jahre Festspielhauses Baden-Baden Baden-Baden, Festspielhaus, 1. Juli 2023