Johannes Witt, Künstlerische Leitung des LJO Hamburg
Foto © Sarah Wijzenbeek
Jubiläumskonzert 55 Jahre LJO Hamburg
Leonard Bernstein
»Candide«-Ouvertüre
Edward Elgar
»Sea Pictures« op. 37 für Sologesang und Orchester
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73
Dirigent: Johannes Witt
Solistin: Ann-Beth Solvang (Mezzosopran)
Landesjugendorchester Hamburg
Elbphilharmonie, 16. November 2023
von Harald Nicolas Stazol
Ein jung-zackiger Furtwängler, ein neu und zu Recht bemühter Immanuel Kant, ein vollendeter, mir bis dato unbekannter Elgar, so schön, dass ich ihn inzwischen zum 28ten Male gehört haben, YouTube-Zähler sei Dank, die Entdeckung einer STIMME!!!, ein Orchester, in aller Unschuld und in allem schön zu sehenden Ungestüm aller Jugend, der hier so sehr begabten Jugend, ein aus den Nähten platzendes Haus, ein wohlgelaunter, elegant-dynamischer 1. Bürgermeister – und lauter kleine, aufgeregte, sich die Fliegen oder Krawatten zurechtstreichende Mini-Smokings schon auf dem „Platz der Deutschen Einheit“, einen umschwärmend: Der Festakt zum 55-jährigen Bestehen des Landesjugendorchesters unserer Hansestadt kann sich sehen und hören lassen!
Doch tatsächlich von den schwarzen Fliegen auf weißem Hemd: Bis man begreift, dass die Jungs im Abend-Outfit, sich manchmal das sicherlich ungewohnte Sakko etwas linkisch im Foyer arrangiert, für viele mag es der erste Anzug sein? Und der vor Spannung leicht rosa Wangenmädchen erstes langes Kleidchen, nun: Sie sind schon die Nachwuchs-MusikerInnen des Elan-strahlenden Orchester des festlichen Abends – dass sich nach drei Reden voller Aufregung zackig, mathematisch und präzise von Maestro Johannes Witt – von mir nun Johannes der Schnelle genannt – bald anleiten, nein, geradezu führen lassen wird.
Unser Oberbürgermeister Peter Tschentscher gerade, „Ein Jugendorchester, dass das erste Mal überhaupt in dem Haus spielen darf, auf das wir alle so stolz sind“ und agil wirkt Tschentscher im Bleistift-Anzug, und auch jetzt erst begreife ich, dass hier Lob getan wird eines jungen, ambitionierten Symphonieorchesters, „das seit Gründungsjahr 1968 Tausende Musiker durchlaufen haben, wie als erster Redner, Matthias Rieger, Erster Vizepräsident Landesmusikrat Hamburg e.V. und einer der Mitbegründer kurz ausführt, da scharren seine Musiker schon mit den Hufen!
Kaum noch, dass sie, trotz aller rhetorischen, abguckenswerten Amüsanz Ludger Vollmer doch sehr ernsthaft den Königsberger Philosophen zitiert – nie verließ jener seine Stadt und prägte doch die Welt – und zur alles überstrahlenden Leuchte der Vernunft erklärt, „Habe den Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ – und Vollmer betont, dass das „Orchester demokratisch selbstverwaltet ist!“
Tja, und bei „Candide“ – endlich dürfen sie loslegen, immer diese Reden! – endet vorerst die Demokratie, zumindest im Dirigat: Denn ein schmaler, sehr großer Mann nimmt sofort die festen Zügel in die Hand, Witt, und ich kann nur sagen: Bernstein, Bernstein, LEONARD BERNSTEIN!!! Einmal dirigiert Lenny nur aus den Hüften voller Freude die Wiener, die sich ihre österreichische Würde nicht nehmen lassen, und natürlich ist der Dirigent dieses Fest-Abends für solchen Frevel nicht zu haben – vielleicht hätte es ja ein wenig geholfen –, nun die Seinen galoppieren und galoppieren durch, so vital-zuversichtlich-reine-Freude-bereitende Ouverture, nun, aber wie manchmal beim „Royal Ascot“, ja, gar nicht ungewöhnlich beim Debut eines Vollblütlers, wird sich auch mal vergaloppiert, auch beim besten Jockey – aber keine Sorge, junge Freunde, hier, in diesem Musentempel haben sich beim ersten Mal schon viele – und ganz andere! – vergaloppiert.
Und dann! DANN!!! Bei den „Sea Pictures“, des Edward Elgar, Op.37 – seinetwegen bin ich gekommen, ob man ihn jemals wieder hören wird auf dieser Prachtbühne, so selten ist er und da entfaltet sich das Landesjugendorchester derart staunenswert und voller frischer Kraft, und solcher Sensibilität, unbedingtem Feingefühl und kunstreicher Zieseliertheit, dass man vor patriotischem Stolz ganz außer sich sein wird bald!
Was vor allem und über allem an dieser STIMME liegt… Geduld, nur Geduld, zu ihr wir kommen noch!
Elgar komponiert die fünf Lieder 1894 zunächst für Sopran, da wohnt er in Birchwood Lodge, Great Storridge in Herefordshire, und schreibt erst auf Bitten der Mezzosopranistin Clara Butt um, fünf Gedichte zum Thema der See von fünf Dichtern: „Im Hafen von Capri“, das dritte Lied, schreibt er für seine Frau, die viktorianische Dichterin Caroline Alice Elgar – am 5.Oktober 1899 ist beim Norfolk and Norwich Festival Premiere, die Butt als Meerjungfrau gewandet, am 20. Oktober 1899 wird das Poem Königin Victoria höchstselbst zu Gehör gebracht, die äußert ihr Wohlwollen.
Umgeschrieben für Mezzo: Heute Abend kann man sein Glück darob nicht fassen, denn da ist sie, die STIMME!, und da hebt sie an, voller dunklem Schmelz, voller klarer Diktion, voller Beherrschung des Sujets, mal Meermaid, mal schwere See, mal ein Korallenriff besingend, und wie – ganz nah, fast in den 1. Geigen steht sie, fast darinnen, was ganz besonderes Zwischenspiel wohl ermöglicht, man denke an einen genau passenden Glacéhandschuh, in weiß:
„Aus Tiefen tönt es leis und sacht, im Wind die weiße Gischt erwacht, es lockt und lockt mich hinzuziehn ins Land, wo die Korallen blüh’n.
Auf Berg und Au, an Wies’ und Bach, bei Mondes Schein in tiefer Nacht tönt es mir zu und kündet mir vom Land, wo die Korallen blüh’n.
Ja, drück mir fest die Augen zu, doch fliegen meine Fantasien
ins Reich der Wogen und dorthin, wo Muscheln sind, Korallen blüh’n.
Wohl küsst du wie die Abendsonn’
und lächelst wie der neue Tag,
doch geh’ von mir, geh, lass mich ziehn ins Land, wo die Korallen blüh’n.“
…singt die STIMME: Ann-Beth Solvang.
Und da blühen sie auf, die jungen Musikanten, ich jedenfalls komme aus dem Plaisir und dem Staunen nicht heraus, ich sage ja, ich muss das Werk, ach was, die Tondichtung, seit Tagen immer wieder hören!
Aber sehen wir doch einmal ins Programmheft, in dem übrigens zwei Geigenbauer inserieren:
„Die norwegische Mezzosopranistin Ann-Beth Solvang studierte am Rogaland Conservatory of Music in Stavanger sowie an der Staatlichen Opernakademie in Oslo. Nach zwei Jahren im Opernstudio der Staatsoper Hamburg wurde sie 2008 ins dortige Ensemble übernommen. Mit Beginn der Spielzeit 2011/2012 machte sich die Künstlerin selbstständig und war u.a. bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, am Théâtre du Châtelet in Paris, am Theater an der Wien, an der Bayerischen Staatsoper München sowie an der Norwegischen Nationaloper in Oslo zu Gast. Daneben ist sie Mitbegründerin des Opern-Ensembles »Fjosopera«, das Opern auf unterhaltsame Weise aufbereitet und in Norwegen auch dort aufführt, wo kein richtiges Opernhaus zur Verfügung steht.“
Tja, heute Abend eben schon! Triumph über Triumph! Auch das so stupende Orchester wird es ihr mit Trampeln zu dem des Publikums und dem Pfeifen des ganzen Rundes bis in den 16.Rang danken – das Hohe Haus ganz aus dem Häuschen!
So ist die Pause ein einziger Reigen an zufriedenen Eltern, Geschwistern und Verwandten im regen Gespräch, durchaus festlich angetan, bisschen wie Abschlussball, treppauf – treppab.
Geschenkt! Denn das gleicht die Landesjugend mit Feuer und Elan und eben ganz frischer Energie völlig und zur Zufriedenheit des Rezensenten aus: Schwungvoll sind sie, voller adoleszenter Kraft, und man merkt die Hingabe an das Werk, das Brahms selbst am am 22. November 1877 an seinen Verleger Simrock so beschreibt:
Nun, hier heute kein Spürchen von Melancholie, kein Trauerrand, nichts Molliges – stattdessen really good vibrations! – und nach dem stolzen Finale ist nicht nur der Stolz des Orchesters auf sich selbst deutlich fühlbar im Raum, der des Dirigenten auf seine Truppe auch, nur noch übertroffen von dem des Hamburger Publikums auf diesen famosen Nachwuchs, und völlig zu recht! Die Ovationen nehmen kein Ende.
Man darf gespannt sein, wie sich die einzelnen Karrieren weiterentwickeln werden, aber bei dieser Liebe zur Musik kann man nur guter Hoffnung sein.
Ein überaus erfrischender Abend, ja, ein Jungbrunnen!
Harald Nicolas Stazol, 20. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Orchester im Treppenhaus Elbphilharmonie, Hamburg, 14. November 2023
»SINGING!« NDR Vokalensemble / Klaas Stok Elbphilharmonie, 11. November 2023