Matthew Halls © Johannes Niesel-Reghenzani
Obwohl ich persönlich die „historische“ Interpretation bevorzuge, hat auch die „symphonische“ mächtig auf mich gewirkt. Es haben sicher beide ihre Berechtigung, so unterschiedlich das Ergebnis auch ausfallen mag. Aus dem großen Beifall, der nach den zwei Konzerten aufbrandete, schließe ich, dass jede Interpretation ihre Anhängerinnen und Liebhaber hat. Wie schön, dass ich in Wien an einem Tag beide erleben konnte!
Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle glauben an Johann Sebastian Bach. (Mauricio Kagel)
J.S. Bach, Matthäuspassion, BWV 244
Wiener Symphoniker
Rebeka Rusó, Viola da Gamba
Wiener Singakademie, Einstudierung: Heinz Ferlesch
Stuart Jackson, Tenor (Evangelist)
Manuel Walser, Bariton (Christus)
Sophie Junker, Sopran
Hugh Cutting, Countertenor
Laurence Kilsby, Tenor
Samuel Hasselhorn, Bariton
Robert Schöck, Bass (Pilatus)
Johannes Feigl, Bass (Petrus)
Camilo Leins, Bass (Judas)
Dirigent: Matthew Halls
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 17. März 2024
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Orchester Wiener Akademie
Mitglieder des Musica Angelica Baroque Orchestra Los Angeles
Solisten Chor 1: Johanna Rosa Falkinger, Sopran; Reginald Mobley, Alt; Benedikt Kristjánsson, Tenor; John Taylor Ward, Bass
Solisten Chor 2: Teres Wakim, Sopran; Alois Mühlbacher, Alt; Daniel Johannsen, Tenor; Stefan Zenkl, Bass
Ripieno: Mitglieder des Wiener Akademie Consort
Dirigent: Martin Haselböck
Großer Saal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 17. März 2024
von Dr. Rudi Frühwirth
Zufall, Absicht, oder mangelnde Koordination? Wie auch immer, am vergangenen Sonntag stand in den beiden großen Wiener Konzertsälen Bachs Matthäuspassion auf dem Programm.
In der Matinee im Konzerthaus spielten die Wiener Symphoniker auf modernen Instrumenten die „symphonische“ Version; am Abend spielte im Musikverein die Wiener Akademie auf historischen Instrumenten die „historische“ Version. Das war für mich eine einzigartige Gelegenheit, zeitnah einen Vergleich der beiden Interpretationen dieses singulären Werkes anzustellen.
Beginnen wir mit der „symphonischen“ Version. Unter dieser – zugegebenermaßen reichlich unscharfen – Bezeichnung verstehe ich eine Wiedergabe mit großem Orchester, gespielt auf modernen Instrumenten, mit großem Chor und vom Chor gänzlich unabhängigen Solisten.
Natürlich sind auch mit modernen Standardinstrumenten verschiedene Spielweisen möglich. Ich hatte den Eindruck, dass der Dirigent Matthew Halls sich bemühte, der „historischen“ Interpretation recht nahe zu kommen, indem er bei den Streichern wenig Vibrato zuließ; die Oboe und das Fagott wird in Wien ohnehin mit sehr wenig Vibrato gespielt. Dennoch ist nicht zu überhören, dass die modernen Holzblasinstrumente vor allem eine möglichst große Homogenität der Klangfarbe anstreben.
Umso wichtiger ist in diesem Fall bei Bach eine ausgeprägte, lebendige Artikulation und Phrasierung. Hier kann ich dem Dirigenten kein uneingeschränktes Lob aussprechen: in manchen Arien, wie etwa „Buß und Reu“ und „Blute nur, du liebes Herz“ im ersten Teil, war mir die Instrumentalbegleitung etwas zu gleichförmig und uninspiriert. Ich laste das aber keineswegs den OrchestermusikerInnen an, die durchwegs einwandfreie bis ausnehmend schöne Leistungen boten. Besonders gefiel mir unter anderem die Flöte in der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, die beiden Oboen und das Fagott in der Arie „Ich will dir mein Herze schenken“, und die Solovioline in der zu Tränen rührenden Arie „Erbarme dich“. Ich möchte aber betonen, dass Matthew Halls insgesamt eine spannende, in den dramatischen Passagen klanglich überwältigende, an anderen Stellen sehr ergreifende Interpretation gelang.
Die Sängerinnen und Sänger, allen voran Stuart Jackson als Evangelist und Manuel Walser als Christus, waren über jede Kritik erhaben. Das ergreifende Arioso des Christus „Trinket alle daraus“ war wie die gesamte Partie des Christus ganz wundervoll gesungen. Der Countertenor Hugh Cutting sang die Altpartie virtous und stilsicher, ebenso wie Sophie Junker die Sopranpartie. Das etwas metallische Timbre des Tenors Laurence Kilsby war in der „symphonischen“ Version durchaus nicht fehl am Platz. Der Bariton Samuel Hasselhorn gestaltete die Bass-Arien hingebungs- und ausdrucksvoll.
Der Chor, einstudiert von Heinz Ferlesch, bot eine grandiose Leistung, in den hochdramatischen Stellen wie etwa dem berühmten Aufschrei „Barrabam“ ebenso wie in den von tiefer Trauer erfüllten Chorälen, in der kontrapunktisch faszinierenden Einleitung „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ und im versöhnlichen Ausklang „Wir setzen uns mit Tränen nieder“.
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Ein völlig anderes Bild – optisch wie akustisch – bot die Aufführung abends im Musikverein.
Martin Haselböck orientierte sich ganz an Bachs Leipziger Aufführungspraxis. Besonders augenfällig war der Unterschied bei den Vokalisten. Während die Singakademie mehr als sechzig Sängerinnen und Sänger auf das Podium brachte, waren bei Haselböck in jedem der beiden Chöre nur jeweils vier Solisten aufgeboten, im Ripieno unterstützt durch vier weitere Mitglieder des Wiener Akademie Consort, sodass auch in den großen Chören und in den Chorälen nur sechzehn Stimmen zu hören waren. Dementsprechend waren auch die beiden Orchester mit unter zwanzig Instrumentalisten deutlich kleiner besetzt.
Dank der hervorragenden Akustik des Großen Saals ergab sich trotzdem ein eindrucksvolles Klangerlebnis. Durch das harmonische Zusammenwirken von Solisten und Chor kam der eigentliche, spirituelle Charakter des Werks stärker zum Ausdruck, mehr Gottesdienst als konzertante Aufführung. Das Orchester klingt zwar insgesamt leiser als das symphonische, hat aber mehr Transparenz und eine größere Fülle an Klangfarben anzubieten. Folglich muss sich auch die Auswahl der Solostimmen an das spezifische Klangbild der historischen Instrumente anpassen.
Im Orchester des Abends waren Musiker und Musikerinnen sowohl der Wiener Akademie als auch des Musica Angelica Baroque Orchestra vertreten, das in Los Angeles beheimatet ist und ebenfalls von Martin Haselböck geleitet wird. Wie erwartet folgte der Dirigent in Artikulation und Phrasierung viel deutlicher als Matthew Halls dem von Harnoncourt formulierten Konzept von „Musik als Klangrede“.
Wir werden leider nie wissen, wie die Matthäuspassion in der Leipziger Thomaskirche unter Bachs Leitung tatsächlich geklungen hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die „historische“ Interpretation den Intentionen des Komponisten deutlich näher kommt als die „symphonische“. Bach wurde einmal vom Rat der Stadt Leipzig vorgehalten, dass seine Musik zu „opernhafft“ sei und die Zuhörer zu wenig „zur Andacht aufmuntere“.
Bach hat sich glücklicherweise daran nur sehr beschränkt gehalten, was zahlreiche Stellen in der Matthäuspassion bezeugen. Die „symphonische“ Interpretation der Passion wäre aber vermutlich selbst Bach zu „opernhafft“ vorgekommen.
Martin Haselböck fand in seiner Gestaltung des Werks das rechte Zusammenspiel von überschäumender Dramatik mit ruhiger Andacht und trauender Besinnung.
Das Klangbild der Wiener Akademie hat mich – als einen eingefleischten Fan der Nederlandse Bachvereniging – leise enttäuscht. Zu stark wurde es nach meinem Gefühl von den tiefen Streichern, also Celli und Kontrabass, dominiert, was insgesamt einen etwas dumpfen Gesamteindruck ergibt. Der hauchende Ton der historischen oder nachgebauten Flöten hat mir dagegen sehr gut gefallen, wie auch die farbigen Klänge der Oboen und des Fagotts. Gerade die Oboen haben in der Matthäuspassion viel heikle Begleitarbeit zu leisten, die durchwegs gut gelang, mit Ausnahme der letzten Arie „Mache dich, mein Herze, rein“, in der Intonationsprobleme nicht zu überhören waren.
Die Sängerinnen und Sänger waren klug ausgewählt. Benedikt Kristjánsson, der isländische Tenor im ersten Chor, war ein hervorragender Evangelist, bewies aber auch mit der Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“ seine sängerischen Qualitäten. John Taylor Ward, der Bassist des ersten Chors, war ein herrlich tönender Christus. Daneben teilte er sich mit Stefan Zenkl, dem ebenfalls überzeugenden Bassisten des zweiten Chores, die Bass-Arien. Zenkl fielen überdies die Rollen des Judas, des Pilatus und des Petrus zu. Reginald Mobley, der Alt des ersten Chores, gefiel mir ausnehmend gut – Hugh Cutting wäre im klanglichen Umfeld dieser Interpretation fehl am Platz gewesen.
Der zweite Altist, Alois Mühlbacher, fiel im Vergleich zu Mobley etwas ab; seine Stimme hat noch nicht das Volumen und die Ausdruckskraft von Mobley. Der Tenor des zweiten Chores, Daniel Johannsen, hatte neben den Ripienostellen nur eine Arie zu singen: „Geduld, Geduld“. Er gestaltete sie in seiner charakteristischen pointierten Art. Die Sopranistin des ersten Chors, Johanna Rosa Falkinger, gefiel mir durch ihre klare Tongebung und schöne Phrasierung, die besonders in der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ wichtig ist. Teres Wakim, die Sopranistin des zweiten Chors, schwächelte an diesem Abend in der tiefen Lage; ihre Interpretation der Arie „Blute nur, du liebes Herz“ war daher an machen Stellen nicht optimal.
Die zwei Konzerte an diesem Sonntag haben mich zu erneutem Nachdenken über das Werk angeregt.
Obwohl ich persönlich die „historische“ Interpretation bevorzuge, hat doch auch die „symphonische“ mächtig auf mich gewirkt. Es haben also sicher beide Interpretationen ihre Berechtigung, so unterschiedlich das Ergebnis auch ausfallen mag. An dem großen Beifall, der nach den zwei Konzerten aufbrandete, schließe ich, dass auch jede ihre Anhängerinnen und Liebhaber hat. Wie schön, dass ich in Wien an einem Tag beide erleben konnte!
Dr. Rudi Frühwirth, 20. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion Wiener Konzerthaus, 17. März 2024
Johann Sebastian Bach, Matthäuspassion BWV 244 Frankfurt, Alte Oper, 16. März 2024