Fotogalerie/TRIPTYCH © Virginia Rota, Peeping Tom
Programm
GASTSPIEL – PEEPING TOM: TRIPTYCH
Choreographie Gabriela Carrizo, Franck Chartier.
Physical theatre performance in drei Akten – 2020
The missing door, The lost room, The hidden floor
Regie und Choreographie Gabriela Carrizo, Franck Chartier
Komposition und Arrangements Eurudike De Beul, Annalena Fröhlich, Ismaël Colombani, Louis-Clément Da Costa, Raphaëlle Latini
Bühne Justine Bougerol, Gabriela Carrizo
Kostüme Yichun Liu, Louis-Clément Da Costa, Seoljin Kim
Licht Tom Visser
Ensemble der Compagnie Peeping Tom
Lauren Langlois, Fanny Sage, Eliana Stragapede, Wan-Lun Yu, Konan Dayot, Fons Dhossche, Panos Malactos, Alejandro Moya
Nationaltheater, München, 16. April 2024
von Frank Heublein
An diesem Abend ist die belgische Compagnie Peeping Tom mit Triptych innerhalb der Ballettwoche im Nationaltheater in München zu Gast.
Mein Stehbänkchennachbar in der Galerie des Nationaltheaters spricht treffend aus, was auch ich fühle: ich war noch nie gleichzeitig so abgestoßen und fasziniert von einem Ballett. Ich spüre meinen inneren Konflikt. Peeping Tom gelingt große Kunst, die in mich eindringt.
Ich befinde mich auf einem Filmset. Es ist ein Ozeandampfer. Die drei Akte sind unterschiedliche Räume dieses Schiffes. Im ersten Akt „The missing door“ (die fehlende Türe) sehe ich die Entstehung eines Todes. Das Ende ist der Anfang, denn der Tote hängt leblos in der rechten hinteren Ecke des Raums. Das begreife ich am Ende, wenn es wieder von vorn los geht, die Endlosschleife andeutend. Im zweiten Akt „The lost room“ (das verlorene Zimmer) wird es psychedelischer. Ich sehe getanzte Wahnvorstellungen. Ein Kopf wandert um den Körper herum. Hände umgreifen durch die Wände eine Tänzerin, die panisch schreit. Im dritten Akt „The hidden floor“ (der versteckte Boden) ist ein Antanzen gegen den Untergang in einem desolaten Barraum eines dem Untergang geweihten? Schiffes. Mich mutet die Atmosphäre dystopisch an. Der Boden ist versteckt unter einer vielzentimeterdicken Wasserfläche.
Physical theatre performance nennen Gründerin Gabriela Carrizo und Gründer Franck Chartier der kleinen belgischen Tanzcompagnie Peeping Tom ihren Abend. Körperliche Theateraufführung. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Denn so frage ich mich an vielen Stellen: ist das noch Tanz? Aber ja doch. Eindrucksvolle Hebefiguren, lang und kompliziert wie zu Anfang des dritten Aktes. Faszinierend. Technisch extrem herausfordernd, dazu im glitschigen rutschigen Wasser. Die Füße der Tänzerin wischen durchs Wasser bei einer schwungvollen Drehung. Wow! Doch dann? Die Tänzerin wirft sich? wird vom Tänzer? ins Bodenwasser geworfen und bleibt betäubt liegen. Physisch. Martialisch. Schmerzend.
Elegant werden „Pas de deux Szenen“ gebrochen. Etwa ein Kussversuch im ersten Akt. Der Tänzer rutscht nach unten, der Kuss trifft das Polster.
Tänzer und Tänzerinnen werfen sich zu Boden. Sie zerbrechen in der tänzerischen Figur und klappen zusammen in unnatürlichen Stellungen mit verdrehten Körperteilen.
Mehrfach sehe ich Hebefiguren mit puppenhaft wirkenden Tänzerinnen, die in unnatürlicher Haltung vom Tänzer herumgetragen werden – wie bekommen die Tänzerinnen das so lange physikalisch hin, sich in dieser Haltung so lange nicht zu bewegen? Frage ich mich. Und dann? Werden sie vom Tänzer plötzlich weg auf den Boden – wirklich! – geschmissen.
Bin ich abgestoßen? Ist das noch Tanz? Es ist roh und hart: physical theatre performance. Ich bin fasziniert ob der düsteren soghaften Atmosphäre, der ich mich nicht entziehen kann. Ich muss mich wehren, nicht auf-, nicht eingesaugt zu werden.
Die Compagnie umfasst vier Tänzerinnen und vier Tänzer. Es kommt mir vor, es wären mehr. Als sei es ein Filmschnitt, verschwinden Tänzer und Tänzerinnen oder sind plötzlich und unmittelbar da. Ich schaffe es nicht, alles im Blick zu behalten. Zu viel passiert an zu vielen unterschiedlichen Stellen dieses auf der Bühne eher klein aufgebauten Raumes. Trotz meiner grandiosen Übersicht in der obersten Etage des Nationaltheaters, bei der ich sogar hinter das Filmset blicken kann.
Es ist spannend, wie die Compagnie die Pause dieses Abends bricht. Denn das Publikum weiß nicht, wann es klatschen soll. Ist schon Pause oder nicht? Denn von Akt eins zu zwei bauen alle, auch die Tänzer, mit um. Genauso wie beim Umbau von Akt zwei zu drei. Da ist die Pause ins Programm geschrieben. Mir passiert viel zu viel auf der Bühne, als dass ich das nicht weiter beobachten wollte. Für mich gehört die Pause zur Choreografie. Ich will diese Atmosphäre nicht in mir brechen. Ich lasse mich auch durch die umgebenden zum Teil irritierten Gespräche nicht aus der Konzentration aufs Filmset bringen.
Außergewöhnlich. Extremer Tanz. Die Tänzerinnen und Tänzer geben alles. Rutschen beim Schlussapplaus mit einer Wasserfontäne ins Filmset hinein. Hemmungslos. Angstfrei. Risikobereit. Triptych ist krass, abgefahren, toll!
Frank Heublein, 19. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pjotr I. Tschaikowski, Pique Dame Nationaltheater, München, 4. Februar 2024