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Anlässlich des Abschlusskonzertes am 30. Juni 2024 des
NDR Elbphilharmonieorchesters der Saison unter Alan Gilbert
Antonín Dvořák
Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 »Aus der Neuen Welt«
NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent Alan Gilbert
Elbphilharmonie, 30. Juni 2024
von Harald Nicolas Stazol
Es gibt Themen, die sind so groß, dass man sie nicht kleinkriegt. Und so trage ich seit drei Wochen eine Rezension unter dem bewegten Herzen, dergestalt, dass ich, werte Leser und Leserinnen, auch bei dem Glanzorchester unserer Stadt, zum Patrioten werde, nach dieser Wiedergabe der Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 »Aus der Neuen Welt«, deren Bedeutung für mich persönlich – so werde ich des Abends gewahr, der nun soweit zurückliegt schon, noch einmal Verzeihung, ich bin zu spät – für mich so im Sinne des Wortes schicksalshaft ist.
Aber wie will man für eine Symphonie zu spät sein? Ereignet sie sich doch ad hoc, während sie aufklingt, und ist Musik nicht die „unmittelbarste aller Künste“ da sie IM Moment entsteht.
Nun also Dvořák. Und seine „Neue Welt“.
„Es fühlte und hörte sich genauso an, wie damals als ich mit der Queen Mary in New York einlief, 1966“ zwitschert die ältere Dame, hochelegant samt kleiner, güldener Tank-Cartier, Art Déco, „Hier traue ich mich das, am Klosterstern wollte sie mir ein Trickbetrüger vom Handgelenk ziehen“ – da ist der Dvořák gerade verklungen, unter Alan Gilbert und seinen Philharmonikern.
Wie glanzvoll, wie definierend, wie des Erwartens wert, erwartet und erlösend – lasten doch alle Erfolge der letzten Saison befreiend-sich-beweisend auf dem Orchester, und wenn man einmal fünf Stunden Messiaen dirigiert hat – nun Die Neunte, eine Tour der Force, Dvořák, mir stets Erlösung:
„Ich wünsche mir die Symphonie aus der Neuen Welt“, sage ich meinem Großvater, dem imposanten Professor und Mitglied des hessischen Landtages am Telefon, 1982, da geht es um mein Geburtstagsgeschenk, zum 12. Geburtstag.
Sprachlos ist er, so liegt es in der Familie, mein Großvater, nie: Als ich ihn im Schach schlage, zum Beispiel, und er sofort Revanche fordert, und ich diesmal natürlich verliere. Und das andere Mal, sprachlos für 15 Sekunden am Hörer nach Wiesbaden, damals rauscht es noch in der Leitung, und, keine fünf Tage später, zum 8. Januar, trifft das Paket ein, genauso groß, wie eine Langspielplatte, und sie liegt am Morgen auf dem Gabentisch, und ich reiße den Umschlag langsam und vorsichtig auf, und ziehe die LP der Deutschen Grammophon heraus, und Antonin Dvořák steht da schwarz auf gelbem Grunde, aber das Frontispiz!!! Soll heißen, das Cover!
Es ist eine tief-weite Luftaufnahme, ganz über die Insel Manhattan hin, hinunter des Hudson, Wolkenkratzer allüberall, himmelblauer Himmel, und ich weiß es, ja, ich höre es auf meinem TECHNICS Tangential Plattenspieler auf dem Bang&Olufsen System meines Vaters – ICH MUSS, ICH MUSS, ICH MUSS DAHIN!
Von solcher Macht ist jener Tscheche, der Wahrgewordene, der unbedingte Patriot, ja, der Einzigartige: Antonín.
Man mag sich erinnern: Gerade noch hat er in Birmingham seine „Geisterbraut“ aufführen lassen, er ist so berühmt, sein Konterfei hängt an jedem Kiosk, an jedem Pier, an jedem Tea House. Und er muss bei einem 1000stimmigen Chor nichts einstudieren!
Und dann ereilt ihn ein Stipendiat, eine Berufung in den Vereinigten Staaten. Zu seinem, nein, zu unser aller Glück.
Novosvětská oder Z Nového Světa „Aus der neuen Welt“ (1893, UA 16. Dezember 1893), so heißt es, das Geniewerk, das dieser Tscheche da über ein Land walten lässt, das so groß, so übermächtig, so gewaltig, dass man von Chicago O’Hare nach Houston drei Stunden Flugzeit benötigt, nach L.A. viereinhalb.
Natürlich griffe dies Antonín voraus. Aber da die LP meines Großvaters immer und immer wieder aufgelegt wird – nun, ich kaufe mir bei der Buchhandlung Schönhuber in der Ludwigstraße in Ingolstadt einen FALK-Plan von New York – Sie wissen noch, die, die man auffalten konnte? – und pinne ihn an die Holzwand meines Jugendzimmers. Fifth Avenue, Greenwich Village, Wall Street, Metropolitan Opera – DA WILL ICH HIN! Da bin ich 14 Jahre alt.
Dies alles läuft vor meinem inneren Auge, in meinen sich erinnernden Ohren ab, und nun endlich mag man auf die vier Sätze des Opus Imperium eingehen, für das man einfach nur dankbar sein muss?
Da sind Kataklysmen unterschiedlichster Spielarten, die Pentatonik der indianischen Volksmusiken, man hat sie dem Komponisten vorgespielt, in New York. Ich weiß nicht mehr, wo ich das las – man möge mich korrigieren.
Was also läge näher, einen Amerikaner, der in Hollywood geboren ist, Matthew, zum Hören der Neuen Welt hinzu zu bitten, und was nun folgt, ist wohl eine „Modernisierung“, aber gerade hat ein anderer Freund den Komponisten in der Hollywood-Zeit verortet… aber nein, wie alle Genies: Er nimmt ganz Hollywood voraus, ja, von den Scores von Ben Hur bis Star Wars…
Allesamt seine Erben!
Jener so schmachtend-zärtliche Beginn des ersten Satzes, Elfengesang, dann Gewitter? „Nein, es ist ein Sonnenaufgang im Monument Valley“. Und schon höre ich mich zurück, so machtvoll ist der Meister, an den Grand Canyon und Santa Fe, und Arizona und New Mexico, dass die Amis eroberten, und das ich bereist habe, 1997, da war der American Dream alive and kickin’ – wie unschuldig war doch die Welt vor September 11 – die Neunte dürfte eine der Assoziativsten sein, deswegen eben ja ein Kind des Lieblingspublikums.
Nun aber wirklich ein Blick in den Musik-Almanach: „Mit Dvořáks vielseitigem Werk fand das tschechische Musikschaffen endgültig seine unverwechselbare nationale Identität. Was Bedřich Smetana mit den nationalen Stoffen und folkloristischen Zügen einiger seiner Opern und mit seinem Zyklus Mein Vaterland eingeleitet hatte, führte Dvořák zu einem Höhepunkt.
Unbeirrt von ideologischen Strömungen ging er seinen eigenen Weg und bewunderte in gleicher Weise Wagner und Brahms.
Heimatliebe, Naturverbundenheit, tiefe Religiositätät, aber ebenso berauschende Lebensfreude kommen in Dvořáks Werk zum Ausdruck, der einige Misserfolge durchzustehen hatte, bis durch die Empfehlung von Brahms seine Slawischen Tänze im Druck erschienen und die Musikwelt auf ihn aufmerksam wurde. Nachdem zunächst nur wenige seiner Werke im internationalen Musikbetrieb Fuß gefasst hatten, änderte sich dies unter anderem durch die Gesamteinspielung seiner Sinfonien durch István Kertész.“
Der zweite, sachte, gaaaaanz lange Satz, das Klagen eines Holzbläsers, dann von den Streichern aufgenommen, gesteigert – dass, so Matthew, „ist die Farm-Idylle, everything is good, you will be fine!“ – ja, hier kann man ihn hören The American Dream,
Der ja gerade an einer neuen Diktatur, „you will never have to vote again“, in den Abyss versinken wird.
Ach, wieviel Aufstrebendes, wieviel Optimismus, der dritte Satz, „Der Sheriff sucht seine Jungs zusammen“, da soll nochmal jemand sagen, Dvořák hätte keinen Zeitbezug.
Und was ihn weiter ausmacht, für mich, und Sie, und Alan Gilbert – davon soll im Zweiten Teil recht bald die Rede sein, auf den ich mich schon freue, und der geneigte Leser, die zugetane Leserin sogar auch?
Meine Hoffnung ginge dahin!
Harald Nicolas Stazol, 6. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Teil II erscheint am Dienstag, 13. August 2024 auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Antonín Dvořák, Rusalka, Hamburger Elbphilharmonie, 8. Mai 2022