Wenn das Schicksal zweimal zuschlägt

Wiener Philharmoniker, Klaus Mäkelä, Dirigent  Theater und Philharmonie, Essen, 19. Dezember 2024

Foto © Volker Wiciok/TUP

Kurz vor Weihnachten dirigiert Klaus Mäkelä Mahlers Sechste am Ort der Uraufführung in Essen. Es klingt grandios, doch etwas fehlt. Nur was?

Theater und Philharmonie, Essen, 19. Dezember 2024

Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 6 in a-Moll („Tragische“)

Wiener Philharmoniker
Klaus Mäkelä, Dirigent

von Brian Cooper, Bonn

Es gibt diese Abende. Die man nicht erklären kann. Diese zusätzliche Dimension, die nicht in den Noten steht. Die sinfonische Klangpracht eines Spitzenorchesters etwa, die in Kombination mit dem Ergründen tiefster Abgründe überwältigende Emotionen in einem zurücklässt. Oder man hat pure Schönheit gehört, Bernard Haitink hat etwa gerade das Chicago Symphony Orchestra durch Mozarts Jupitersinfonie geführt. Oder das Borodin-Quartett hat in Bantry House bei Kerzenschein das fünfzehnte Streichquartett des Dmitri Schostakowitsch (in es-Moll!) verebben lassen. Oder Claudio Abbado in Luzern Mahlers neunte Sinfonie.

Mitunter fühlt man sich dann wie der unrasierte schwitzende Sterbende im Film – „Lass mich allein zurück, Django“ –, so sehr nimmt es einen mit, die Beine sind schwer, man verlangt nach der letzten Zigarette, und irgendwann wird abgeblendet, für jeden von uns.

Manchmal spielen in einem Konzert auch mehr oder weniger planbare äußere Umstände eine Rolle (die oben erwähnten Kerzen; ein Fernorchester auf der Empore; im letzten Lied der Winterreise beginnt es draußen zu schneien; oder aber schlicht ein doofes Publikum). Hat man Glück, gibt es dann diese mystische Dimension, die man ebenso wenig erklären kann wie das, was ein Dirigent da vorne eigentlich macht, und die einen tief bewegt zurücklässt. Ergriffen. Angerührt. Begeistert.

Eindrücke vom Vorabend: Nicht durchweg Begeisterung

Bisweilen geht man auch ein wenig vorbelastet ins Konzert. Etliche Kritiken waren schließlich nicht so berauschend, ob des Debüts von Klaus Mäkelä bei den Wiener Philharmonikern mit Mahlers Sechster, weder in Wien selbst noch bei den beiden geschätzten Kollegen in diesem Blog.

Dass er’s kann, der Klaus, dass er die Partitur durchdringt und Spitzenorchester durch deren Fährnisse zu führen weiß, durfte ich bereits vor über zwei Jahren in Amsterdam und Köln erleben. Beide Male grandios. Auch damals ging Mäkelä mit der Sechsten auf Tour; in äußerst unangenehmer Erinnerung bleibt eine gemeine, geradezu unverschämte, FAZ-Kritik.

Und wie viel diese Partitur Klaus Mäkelä bedeutet, zeigt sich darin, dass er Mahlers Sechste sowohl für sein Debüt bei den Wienern auswählte als auch für sein „Antrittskonzert“ in Amsterdam nach der Nominierung zum Chefdirigenten – ein Amt, das er 2027 antritt. Es zeigt sich auch in dem, was er im Vorgespräch auf der Bühne der Essener Philharmonie gesagt hat. Und nicht zuletzt zeigt es sich in der Geste beim Applaus: Er deutet kurz auf die Partitur, die auf seinem Pult liegt, der Applaus gehöre doch bitte mehr Mahler als Mäkelä.

Am Vorabend des Essener Konzerts kommunizierten einige Freunde gegen 22 Uhr ihre Eindrücke aus Köln. Ein Scherzkeks hatte schon vor Beginn gefrotzelt, er habe gehört, es werde „der Hammer“.

„War es wirklich so schlimm, wie alle schreiben?“, frage ich einen anderen Freund. „Mach Dir am besten selbst ein Bild. Ich meine, Nein!“, schreibt er.

Ein dritter Freund, eigens für diesen Abend aus Bayern angereist, schreibt: „Die Aufnahmen von Bruno Walter sind aus meiner Sicht runder bzw. musikalischer. Er war ja quasi der Schüler von Gustav Mahler.“ Ihm, also dem fränkischen Mitbürger, fehlte an diesem Abend „die Binnenspannung“.

„Mäkelä selbst war ergriffen, die Mimik traurig“, schreibt der vierte, der in Reihe 6 saß, was mir bei diesem Werk geradezu gefährlich scheint. Und weiter: „In Köln stand das Publikum zum Applaus auf. (…) Es war nach dem letzten Ton ungewöhnlich lang still, bis Mäkelä endlich die Arme senkte. Ich war vom Publikum angenehm überrascht, das bei ausverkauftem Haus dieses Abklingen in Stille respektierte.“ Chapeau, Köln. Geht doch.

Ein grandioses Orchester, ein überaus talentierter Dirigent

Am ebenfalls ausverkauften Folgeabend in Essen, am Uraufführungsort, gab es zwar Stille nach dem letzten a-Moll-Schlag, der Dirigent ließ auch lange die Arme oben. Doch warum nur senkte die Konzertmeisterin vorzeitig ihren rechten Arm? Und warum konnte der einzelne Klatscher nicht noch drei Sekunden warten?

Es war die sechste Aufführung der Sechsten in einer Woche, doch war keinerlei Tourneemüdigkeit zu spüren, und zwei Selbstverständlichkeiten seien an dieser Stelle betont: Die Wiener Philharmoniker, eines der besten Orchester der Welt, spielten grandios auf. Und Klaus Mäkelä ist ein überaus talentierter Dirigent, dessen Art, Musik zu präsentieren, sehr häufig das Publikum von den Sitzen reißt. So auch in Essen.

Und dennoch: „Etwas fehlt“, notierte ich nach dem ersten Satz, und die Verwirrung dauerte trotz des absolut himmlisch gespielten langsamen Satzes an. (Mäkelä wählte die für meine Begriffe sinnvollere Satzreihenfolge Andante – Scherzo, die auch Mariss Jansons bevorzugte.)

Beeindruckend waren wirklich alle Instrumentengruppen. Das Solo-Horn, die scharf gezackten Blecheinwürfe, die Soli der Konzertmeisterin, die wunderbaren Wiener Pauken, die Tuba, das Holz, die Harfen samt Celesta, und schließlich die so engelsgleich sich in höchste Himmelssphären emporschraubenden Streicher: Alles ist da, es klingt göttlich, Mäkelä beweist Mut zu langsameren Tempi, als man’s mitunter hört, etwa im stampfenden Kopfsatz und dem nochmal eine Spur langsamer genommenen „Alma“-Thema. Auch exponierte Stellen wurden souverän dargeboten.

So viel Wärme wie im zweiten Satz hört man nicht immer von den Wienern, die ich auch schon mal allzu klinisch rein erlebt habe. Das Scherzo an die dritte Stelle zu setzen ist eine gute Wahl, denn es nimmt das Stampfen des Kopfsatzes auf, verballhornt es jedoch zu einer schräg-trunkenen Walzerseligkeit, die keine ist. Das Seitenthema, geradezu lasziv durch diese fünf Klarinettentöne eingeleitet, geriet fantastisch. Und der ausladende letzte Satz begann zwar etwas beliebig, doch dafür entschädigte spätestens die Choralstelle im tiefen Holz und Blech.

Wie war es denn nun?

Sie merken, es war ein sehr guter Abend, an dem allerdings auch im Parkett viel zu viel getuschelt wurde. Das Paar in Reihe 14 neigte alle paar Minuten die kecken Köpfchen zueinander. Im letzten Satz gab es aber auch viel zu berichten: „Hast Du das gesehen? Was für ein großer Hammer! Uiuiui! Hahaha! Hihihi!“ (Und da bald Weihnachten ist, füge ich hinzu: Hohoho, und denke an John McClane, Yippie Ki Yay.) Der Hammerschläge gibt es zwei, sie sollten Schicksalsschläge im Leben Mahlers darstellen, so Alma Mahler-Werfel nachträglich.

Natürlich ist die Sechste ein Stück, in dem es sehr oft sehr laut zugeht. Wenn dem nicht so ist, läuft was schief. Insofern bestand diesbezüglich an diesem Abend kein Grund zur Klage. Aber was fehlte? Das „Tragische“ des Beinamens, das Zerklüftete, Zerrissene, das zum Schreien Schlimme, die Abgründe?

Es ist manchmal unmöglich, genau festzumachen, was gefehlt hat. Vielleicht – und das ist nur der Versuch einer Erklärung – fehlte einfach die Erschütterung, die ich nach einem halben Dutzend Sechster in meinem Leben geradezu körperlich gespürt habe: Boston/Nelsons, Berliner/Rattle, BRSO/Haitink, Rotterdam/Yannick, LSO/Rattle, und natürlich mehrfach das Concertgebouworkest unter Mariss Jansons, einem der größten Mahler-Dirigenten, den wir je hatten.

Es gibt eben diese Abende.

Dr. Brian Cooper, 20. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Auf den Punkt 39: Das geht nicht gut aus Elbphilharmonie, 17. Dezember 2024

Klein beleuchtet kurz 50: Mäkelä und die Wiener Philharmoniker Elbphilharmonie, 17. Dezember 2024

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