Andrea Carino (Romeo) und Soojeong Choi (Julia) nehmen den Schlussapplaus des Publikums entgegen (Foto: RW)
Weite Teile des Dramas finden während des Balls bei den Capulets statt, eingeschlossen die Balkonszene, hier ohne Balkon, die Verbändelung von Romeo und Julia durch Lorenzo und sogar noch die Liebesnacht ohne wirkliche Vereinigung. Das hat Vorteile, denn es wird immer wieder verschwenderisch getanzt. Überhaupt ist das Leipziger Ensemble mit allen Protagonisten fabelhaft aufgelegt. Das Liebesdrama, die Liebesqual, das schlussendliche Leiden am Leben kam dadurch aber etwas zu kurz.
Romeo und Julia, Ballett von Lauren Lovette
Musik von Sergej S. Prokofjew
Bühne und Kostüme: Thomas Mika
Gewandhausorchester, musikalische Leitung: Anna Skryleva
Oper Leipzig, Leipziger Ballett, PREMIERE, 26. Oktober 2024
von Dr. Ralf Wegner
Das Liebesdrama von Shakespeare ist allgemein bekannt. Die Handlung spielt zur Renaissancezeit in Verona. Dort gibt es sogar einen Balkon, auf bzw. unter dem sich Romeo und Julia getroffen haben sollen. Der ist zwar angeblich antik, wurde aber erst um 1937 für die romantisch Liebenden an das in Verona als Wohnhaus der Giulietta in der Via Cappello bekannte gotische Gebäude angebracht. Warum also nicht auch die Geschichte von Romeo und Julia in eine andere Zeit transponieren?
Die Choreographin Lauren Lovette verlegt das Drama in die Zeit des Neoklassizismus, also irgendwann zwischen 1930 und 1960, als auch das Leipziger Opernhaus errichtet wurde (1954-1960). Zumindest das Bühnenbild zitiert die Architektur dieses Gebäudes, wenngleich nicht so gekonnt wie es die damaligen Architekten Nierade und Hemmerling vermochten. Zurückgegriffen wird vielmehr nur auf die autokratische, machteinflößende Architektur der 1930er Jahre, ohne den malerisch-geometrischen Charme, den das Leipziger Opernhaus auch auszeichnet (z.B. Deckendekorationen im Hauptfoyer), widerzuspiegeln. Auch wirken die auf der Bühne fast eins zu eins kopierten pusteblumenartigen Leuchten weniger verspielt als im Hauptfoyer des Opernhauses. Vielmehr unterstreichen sie den machteinflößenden Charakter des Capulet’schen Anwesens.
Während die erste und auch die letzte Szene in der kahlen Betonarchitektur der Hinterbühne eines Theaters spielt, wird beim Haus der Capulets mit Überbetonung neoklassizistischer Linien der Macht- und Unterdrückungscharakter dieser Art von Architektur betont. Ein weiteres Bühnenbild zeigt die Reihen eines neoklassizistischen Zuschauerraums, in den sich Julia und auch Romeo gelegentlich zurückziehen können.
Mit dem tänzerisch-darstellerischen Teil des Balletts hat diese Architektur allerdings weniger zu tun. Es sei denn, die Choreographin will uns zeigen, dass auch eine Frau herrschsüchtig und unterdrückerisch sein kann. Die Väterrollen der Häuser Montague und Capulet hat sie gestrichen. Es gibt nur noch die diktatorische Lady Capulet, der sich alle zu unterwerfen haben und dieses auch tun. Diese dominante Frauenrolle wird von Ester Ferrini mit leicht verbissenem Gesichtsausdruck überzeugend gespielt und getanzt.
Für Lauren Lovette scheinen Männer nur testosteronbeeinflusste Geschöpfe zu sein, die sich vorwiegend am Streit und Kampf entzünden. Für den herausragend tanzenden, charismatischen Carl von Godtsenhoven (Tybalt) gilt das natürlich zu Recht, wenngleich bei ihm die Rabenschwärze dieser Figur nicht so ganz zum Ausdruck kommt.
Wenn er nicht der aktuelle Liebhaber der Lady wäre, könnte sich auch Julia für ihn interessieren. Womöglich versucht die Lady aber auch nur, einen ihrer abgelegten Liebhaber, den sich auch tänzerisch durch Testosteronüberschuss auszeichnenden Paris (Oscar Ward) an ihre eigene Tochter zu verkuppeln. Der letzte Pas de trois mit Julia, der Lady und Paris könnte dieses nahelegen.
Mercutio (Marcelino Libao) hat viel zu tanzen. Sein Tod ist aber eher beiläufig in Szene gesetzt: Ein Stich, ein Fall, und das war’s. Ähnliches gilt auch für den Tod Tybalts. Gleich am Anfang hat Mercutio allerdings sein erstes, noch friedlich endendes Duell mit Tybalt. Sie kämpfen jedoch nicht mit Degen, auch nicht mit Messern oder Ähnlichem, sondern mit merkwürdig aussehenden ellenlangen zylindrischen Röhren. Sollte es sich um dicke Gummiknüppel gehandelt haben? Auch das hätte lächerlich gewirkt. Offenbar meinte es die Choreographin tatsächlich symbolhaft: Mannsein wird von ihr vom Phallischen her und nicht von der mentalen Ratio bestimmt.
Dafür verzichtet die Choreographin auf das eigentlich Entscheidende in der Romeo und Julia-Beziehung: Die nächtliche Vereinigung der beiden („Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“). Ohne die vorausgegangene körperliche Verschmelzung der Liebenden ist die Liebesqual Julias nicht nachvollziehbar. Das etwas trostlose Zusammentreffen der beiden im Zuschauerraum des Theaters ist dem nicht gleichwertig. Vielmehr wendet sich Julia ja sogar von Romeo zunächst ab, der ihren Cousin Tybalt auf dem Gewissen hat. Erst die Verzweiflung ob seiner Tat und der drohenden Ausweisung beseelt sie empathisch. Aber sich deswegen durch einen vorgetäuschten Tod der Welt zu entziehen? Ist das glaubwürdig?
Deshalb wirkt der sehr verkürzte Handlungsablauf nach der Pause auch nicht recht überzeugend. Vor der Pause wird allerdings hervorragend getanzt, von dem gesamten Ensemble. Selbst Lorenzo (Vincenzo Timpa) wird aus seiner sonst eher passiven Rolle erlöst und darf tänzerisch zeigen, was er kann. Das gilt auch für Landon Harris, der als Benvolio eine perfekte doppelte Tour en l’air hinlegte. Die Figur der Amme wurde gestrichen, dafür Rosalinde als lebensbegleitende Freundin Julias eingeführt. Madoka Ishikawa beeindruckte mit dieser Partie tänzerisch und darstellerisch.
Die beiden Hauptpartien waren mit Soojeong Choi und Andrea Carino besetzt. Erstere überzeugte mit darstellerischer Lieblichkeit und perfekten Spagatsprüngen. Romeo wird tänzerisch nicht so viel abverlangt wie beispielsweise Tybalt oder Mercutio. Er muss für die Pas de deux aber gut partnern können, vor allem aber ein charismatisches Auftreten haben, dem Julia zur Überzeugung des Publikums auch rettungslos verfallen kann. Und das gelingt nur wenigen Tänzern dieser Partie. Jedenfalls erreichen die von Lauren Lovette choreographierten Pas de deux nicht die überzeugende Intensität und damit den tänzeraufbauenden Charakter wie in den gleichnamigen Werken von John Cranko oder John Neumeier. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. Und insoweit war Andrea Carino ein guter Romeo.
Lauren Lovette hat der Handlung des Stücks weitgehend ein 24 Stunden-Schema verpasst. Denn weite Teile des Dramas finden während des Balls bei den Capulets statt, eingeschlossen die sog. Balkonszene, hier ohne Balkon, die Verbändelung von Romeo und Julia durch Lorenzo und sogar noch die Liebesnacht ohne wirkliche Vereinigung. Das hat Vorteile, denn es wird immer wieder verschwenderisch getanzt. Überhaupt ist das Leipziger Ensemble mit allen Protagonisten fabelhaft aufgelegt. Das Liebesdrama, die Liebesqual, das schlussendliche Leiden am Leben kam dadurch allerdings etwas zu kurz.
Das auffallend gut gekleidete Publikum im Leipziger Opernhaus applaudierte den Tänzerinnen und Tänzern am Ende der Aufführung herzlich, überschwänglich dem Protagonistenpaar und geradezu überschießend beim Auftreten des Gewandhausorchesters auf der Bühne mit der Dirigentin Anna Skryleva.
Dr. Ralf Wegner, 28. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
John Neumeiers Ballett Romeo und Julia 49. Hamburger-Ballett-Tage, Ballett Hamburg, 3. Juli 2024