Luiz de Godoy in der Basilica Santa Maria Maggiore in Rom © Lukas Beck
Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit Luiz de Godoy, dem künstlerischen Leiter des Singspiels „Frühlings Erwachen“ von Ludger Vollmer anhand der Kindertragödie von Frank Wedekind, dessen Uraufführung am 19. Juni 2025 um 19.30 Uhr an der Hamburgischen Staatsoper – Kampnagel [k6] – stattfindet.
klassik-begeistert: Wie lange dauert das Projekt opera piccola schon?
Luiz de Godoy: Opera piccola ist eine Reihe von Opernproduktionen für junges Publikum und für die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen, die in der Hamburgischen Staatsoper seit 2002 durchgeführt wird. Das Singspiel „Frühlings Erwachen“ ist die letzte Produktion dieser Reihe unter jetziger Intendanz. Diese Inszenierung eignet sich aber keineswegs für Kinder, sondern für Jugendliche ab 16 Jahren und bestimmt für Eltern. Wir betonen das sehr, weil wir in dieser Produktion sehr sensible Themen des Erwachsenwerdens ansprechen. Man kann sagen, dass diese letzte opera piccola eine Brücke zwischen Kindern und Erwachsenen schlägt.
klassik-begeistert: Gilt dies auch für die Besetzung? Wie bereitest Du die jungen Sängerinnen und Sänger auf die Teilnahme an dieser Aufführung vor? Nur musikalisch oder auch psychisch, weil das Thema so schwierig ist?
Luiz de Godoy: Das mache ich nicht direkt, die psychische Vorbereitung ist die Aufgabe des Regieteams. Man hat jedoch mein pädagogisches Fachwissen berücksichtigt, das ich während meiner langjährigen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erworben habe. Wir haben hier ein Awareness-Team sowie einen Intimcoach, also handeln wir genauso professionell wie im Filmbereich. Wir alle sind bei dieser Produktion von der Musik getrieben.
Wenn die Musik gespielt und gesungen wird, verschärft sie die Situationen, die es bereits in der Kindertragödie von Wedekind gibt. In bin dafür verantwortlich, meinen Jugendlichen so viel Raum zu geben, damit sie die musikalische Seite mitgestalten können. Jeder macht das nicht so, wie es ihm oder ihr vorgegeben wird, sondern als autonomer, eigenständiger Künstler oder Künstlerin.
klassik-begeistert: Erlaubst Du als Dirigent ihnen so selbstständig zu sein?
Luiz de Godoy: Bei jungen Sängern, die weniger Erfahrung haben, ist das sehr wichtig. Häufig trauen sie sich nicht und fragen, wie Maestro dies oder das haben will. Sie müssen aber nicht immer die Wünsche des Maestros erfüllen. Dies ist zumindest meine Überzeugung, gerade bei einer Uraufführung des Werkes, wobei keine Aufführungstradition vorliegt. Ansonsten kann der Dirigent immer und wieder auf diese Tradition verweisen. Im Fall von „Frühlings Erwachen“ schaffen wir etwas Neues. Wenn junge Leute genug Raum haben, um kreativ zu sein und zumindest die musikalische Seite kollektiv zu kontrollieren, schafft das eine soziale Sicherheit, besonders bei so schwierigen Themen.
klassik-begeistert: Die schwierigste Frauenrolle ist wahrscheinlich Wendla.
Luiz de Godoy: Zwei junge Sängerinnen spielen abwechselnd diese Rolle. Eine von ihnen macht gerade Abitur. Sie verkörpern die zwei gegensätzlichen Pole Wendlas Persönlichkeit. Diese Figur symbolisiert den Zwiespalt der Jugendzeit. Einerseits hat sie eigene Wünsche, Träume, Begierden und Sehnsüchte. Andererseits ist sie in die Erwartungen der Gesellschaft und der Schule verstrickt, die sie erfüllen soll. Es fällt ihr nicht leicht, das eine mit dem anderen zu vereinbaren. Wie bei anderen Jugendlichen, die zum ersten Mal mit diesem Problem konfrontiert werden. Wir haben zwei Mütter: eine von Wendla und die andere von Melchior. Der von Grzegorz Pelutis gesungene Gabor Amon ist der einzige erwachsene Mann.

klassik-begeistert: Ist er so streng und autoritär wie in Wedekinds Stück?
Luiz de Godoy: Ja und nein. Seine erste Arie ist von der Verunsicherung geprägt. Er fragt sich, was er als Lehrer mit einem Schüler tun soll, der sich zwar anstrengt, aber nicht gut genug ist, dass man ihn durchfallen lassen muss. Und dieser Junge – Moritz – ist in derselben Klasse wie Gabors Stiefsohn Melchior. In unserer Geschichte ist Moritz ein Sohn von einem Einwanderer, was sich auf die heutige Zeit bezieht.
klassik-begeistert: Wie ist die rein musikalische Seite dieses Singspiels? Betont die Musik die drastischen Szenen zum Beispiel mit der Atonalität?
Luiz de Godoy: Ich würde sagen, die Musik geht in viele Extreme, ist aber nicht atonal, sondern eher modal geprägt und enthält viele orientalischen Motive. Das war eine bewusste Entscheidung des Komponisten. Es ist die Musik für ein großes Orchester mit vielen Schlaginstrumenten. Sie ist sehr rhythmisch, was mir gut gefällt. Sie kann sogar die Zuhörer in den Wahnsinn treiben, vor allem durch die Tempi, die die Unmittelbarkeit dieser Themen widerspiegeln.
Wenn ich mich mit dieser Musik auseinandersetze, habe ich das Gefühl, dass sie gewaltig in mich eindrängt, als ob sie Missbräuche, die auf der Bühne passieren, selbst enttarnt hätte. Man kann sie nicht ignorieren, es sei denn man macht die Ohren zu und verlässt die Vorstellung. Oder man bleibt da und konfrontiert sich mit diesen Themen – auch musikalisch.
klassik-begeistert: Wie sieht Deine Arbeit mit dem gesamten jungen Projektchor aus?
Luiz de Godoy: Sie ist herausfordernd, vor allem, um die unterschiedlichen musikalischen Hintergründe unter einen Hut zu bringen, allein von der Klangsprache. Aus der sozialen Sicht ist jedoch alles ganz klar. Der Chor hat eine bestimmte Rolle, er kommentiert oder bleibt manchmal stumm. Das ist eine Gruppe junger Menschen, die sich kennen, die miteinander streiten, aber sich auch gegenseitig schützen, wie in der Schulgemeinschaft. Es gibt unter ihnen Solisten, mit denen wir häufiger arbeiten, vor allem in der letzten Phase der Vorbereitung für die Premiere. Natürlich sind sie Schüler, also muss ihr Engagement im Chor mit der Schule vereinbar sein.

klassik-begeistert: Welchen Eindruck sollte diese Produktion im Publikum Deiner Meinung nach hinterlassen?
Luiz de Godoy: Dieses Werk besteht hauptsächlich aus unangenehmen Szenen. Dazu kommt noch die gewaltige Musik, und ich selbst muss mir Mühe geben, eine psychische Distanz zu halten, damit mein Puls nicht zu hochschlägt. Ich vermute, dass dieser Abend anders als gemütlich sein wird.
Einige Leute werden es sicherlich schätzen, dass dieses Werk so schwierige Themen aufgreift und zum Nachdenken anregt. Die Erwachsenen sollten mit den Kindern vorher über diese schwierigen Themen sprechen, damit die Kinder nicht erst in der Vorstellung davon erfahren und unvorbereitet etwas Schreckliches erleben. Gesellschaftliche Tabus soll man nur mit Liebe in jeder Familie brechen.
Wie unser Regisseur Neco Çelik sagt, wollen wir Hoffnung verbreiten. Unsere Botschaft lautet: nach all den Tragödien geht das Leben weiter, und wir gehen voran, reicher um neue Erfahrungen.
klassik-begeistert: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Jolanta Łada-Zielke, 9. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Luiz de Godoy, deutsch-brasilianischer Dirigent, Chorleiter, Pianist und Musikpädagoge, begann seine musikalische Ausbildung als Pianist an der Escola Municipal de Música de São Paulo in der Klasse von Prof. Renato Figueiredo. Im Alter von 16 Jahren gewann er seinen ersten Klavierwettbewerb und agierte als Chorleiter und Korrepetitor bei Opernprojekten des Theatro Municipal de São Paulo, als Pianist für Solo- und Kammermusik sowie als Orchestermusiker. Eine umfassende musikalische Ausbildung erhielt er während seinen Studien an der Universidade de São Paulo, an der Escola Superior de Artes Aplicadas de Castelo Branco und an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. An der Universität für Musik und darstellende Kunst absolvierte er mit höchstem Lob das Diplomstudium Dirigieren mit Magisterabschlüssen in Orchester- und Chordirigieren. Neben seinem Studium war er zahlreich als Chorleiter und Pianist engagiert, unter anderem bei den Gumpoldskirchner Spatzen, Wiener Sängerknaben und an der Wiener Singakademie. Im Jahre 2016 wurde er Chorleiter der Chorakademie des Wiener Staatsopernchores. Zu seinen bisherigen Auszeichnungen gehören der Erwin-Ortner-Preis zur Förderung der Chormusik (2016) und der Würdigungspreis der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (2019).
Seit 2019 lebt Luiz de Godoy in Hamburg und arbeitet als künstlerischer Leiter des Kinder- und Jugendchores der Hamburgischen Staatsoper „Alsterspatzen“ sowie des Hamburger Knabenchores. Als Dirigent arbeitet er zusammen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Außerdem unterrichtet er Orchesterleitung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Andere Mitwirkende von „Frühlings Erwachen“:
Inszenierung: Neco Çelik
Bühne: Alexander Wolf
Video: Jan Speckenbach
Dramaturgie: Angela Beuerle
Musiktheaterpädagogik: Alanah Chrispeels
Solisten: Claire Gascoin, Grzegorz Pelutis, Mziwamadoda Sipho Nodlayiya, Na’ama Shulman, Jonathan Skala, Timon Wiebers, Rebecca Schneider, Sari Bluhm, Sophie-Miyo Kersting, Mimi Doulton, Alwin Gloy
Interview: kb im Gespräch mit Aleksandra Olczyk, Sopranistin klassik-begeistert.de, 8. April 2025