Claudia Mahnke (Giselle) und Domen Križaj (Guercœur) © Barbara Aumüller
Nachdem ich letzte Saison in Straßburg der französischen Wiederbelebung der Oper “Guercœur” von Albéric Magnard beiwohnen durfte, hegte ich die Hoffnung, dass weitere Opernhäuser dieses grandiose Werk übernehmen werden. Umso erfreuter war ich, als ich sah, dass die Oper Frankfurt meinen geheimen Wunsch gleich in der Saison 2024/2025 erfüllt. Meine Begeisterung für dieses Werk wird durch die Frankfurter Aufführung bestätigt, vor allem wegen der fulminanten Leistung des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter der Leitung von Marie Jacquot.
Albéric Magnard (1865-1914) GUERCŒUR
Lyrische Tragödie in 3 Akten (Libretto: Albéric Magnard)
Musikalische Leitung: Marie Jacquot
Inszenierung: David Hermann
Bühnenbild: Jo Schramm
Kostüme: Sibylle Wallum
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Chor und Extrachor Herren des Oper Frankfurt (Leitung: Virginie Déjos)
von Jean-Nico Schambourg
“Guercœur” bietet thematisch und musikalisch alles, was sich Regisseur und Dirigent wünschen können. Der Kampf um die politische Macht, den die Diktatur schlussendlich gegen die Demokratie gewinnt, ist hochaktuell: Guercœur, der Märtyrer der Freiheit.
Kurz die Handlung: Auch zwei Jahre nach seinem Tod kann sich Guercœur im Himmel nicht damit abfinden und bittet die vier Gottheiten (Wahrheit, Güte, Schönheit und Leid), ihn doch zurück auf die Erde zu lassen zu seiner Frau und seinem Volk, dem er die Freiheit verschafft hatte. Sein Wunsch wird ihm nach langem Bitten endlich gewährt.
Zurück auf der Erde muss er verbittert feststellen, dass seine Frau Giselle sich in seinen Schüler und Mitstreiter Heurtal verliebt hat. Guercœur vergibt schlussendlich seiner Frau und wendet sich seinem Volk zu. Doch auch hier wird er enttäuscht: Heurtal hat seine demokratischen Ideologien verlassen und lässt sich zum Diktator ausrufen. Als Guercœur im Parlament sich Heurtal entgegenstellt, wird er vom Volk ermordet. Zurück im Himmel bittet der enttäuschte Guercœur um Vergebung. Die Göttin der Wahrheit prophezeit, dass in ferner Zukunft sein Traum von Liebe, Freiheit und Frieden erfüllen wird.
David Hermann greift die Aktualität der Handlung auf und verlegt die Geschehnisse größtenteils in einen Bungalow, der an den Kanzlerbungalow in Bonn erinnert. Durch die Drehbühne bekommt der Zuschauer neue Einsichten in dieses Haus, wo persönliche und weltpolitische Schicksale sich kreuzen. Für die Szene im Parlament fand das Regieteam Inspiration aus einem Saal der Vereinten Nationen. Spektakulär, wie am Ende der Szene die Säulen in die Mitte des Saales zusammenstürzen und Heurtal als Diktator gefeiert wird. Besser kann man das Ende der Demokratie nicht zeigen (Bühnenbild: Jo Schramm).
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Die Handlung des ersten Akts im Himmel findet bei Hermann eine Duplizierung auf der Erde. Während Guercœur um sein Zurückkehren auf die Welt bittet, sieht man parallel dazu sein Ableben und sein Begräbnis auf der Welt. Die Rückkehr von Guercœur ins Leben wird plastisch untermauert durch eine spektakuläre Verwandlung auf der Bühne: Wie bei einer Taufe wird Guercœur mit Wasser überschüttet, worauf seine “himmlische” Bekleidung sich auflöst und ein weltlicher Anzug zum Vorschein kommt (Kostüme: Sibylle Wallum).
Die Rückkehr Guercœurs in den Himmel nach seinem zweiten Tod zeichnet David Hermann pessimistisch. Der Chor singt mehrmals zum Schluss zwar das Wort “Espoir” (Hoffnung). Die stereotypen, immer wiederkehrenden Bewegungsabläufe der “Toten” (Und ewig grüßt das Murmeltier) bilden allerdings kein szenisches Spiegelbild dieser Worte. Im Gegenteil: Sie lassen erahnen, dass auch die weitere Geschichte der Menschheit eine ewige Wiederholung derselben fatalen Fehler sein wird.
Die Musik von Magnard, der auch als französischer Bruckner bezeichnet wurde, ist stark beeinflusst von Richard Wagner, von dem er ein großer Anhänger war, spätestens seit dem Erleben einer Tristan-Aufführung in Bayreuth. Die Musik erinnert teilweise an Parsifal. Aber auch Anklänge an den Ring kann man heraushören. Von Wagner und Berlioz inspiriert ist auch die Verwendung von Leitmotiven.
Es wäre aber ungerecht und falsch, Magnards Komposition als Kopie des Bayreuther Meisters zu bezeichnen. Nein, in seiner Musik lebt auch das französische Flair und deren Hang zum Grandiosen. Erscheinen der erste und der dritte Akt oratorienhaft, so geht es im zweiten Akt doch sehr opernhaft zu, vor allem bei der Szene im Parlament, wo Magnard die Chöre der Anhänger und der Gegner Heurtals aufeinanderprallen lässt. Der Zusammenbruch der Demokratie endet in einem großen musikalischen Chaos.
All diese Merkmale bringt die Dirigentin Marie Jacquot mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester bestens zum Vorschein. Von Beginn an entlockt die Dirigentin dem Orchester die nötige musikalische Nervosität. Diese permanente Spannung, gepaart mit vollem Orchesterklang zeigen die “Grandeur” der Komposition. Dabei kann der Zuhörer auch noch zu jedem Moment die Klarheit der einzelnen Instrumentengruppen bewundern. Nicht zu Unrecht erhält die Dirigentin gemeinsam mit ihrem Orchester zum Schluss den stärksten Applaus.
Was die Leistungen der Sänger angeht, so kann man durchgehend zufrieden sein. Allerdings stört mich, dass in vielen Szenen die Textdeutlichkeit aller Sänger zu wünschen übrig lässt. Besonders dieses Werk verlangt doch eine totale Textverständlichkeit, damit der Zuhörer die sozialpolitischen Ideen Magnards verfolgen kann. Natürlich macht hierbei der kompakte Orchesterklang der Partitur den Sängern das Leben schwer.
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Den Guercœur singt Domen Križaj mit rundem festen Bariton, der sowohl den liebenden, den kämpfenden, den enttäuschten und zum Schluss den resignierenden Titelhelden zeichnet. Claudia Mahnke zeigt in der Szene mit dem wiederkehrenden Guercœur in beeindruckender Manier und leuchtender Stimme wie Giselle um ihr Leben und ihre Liebe kämpft. Für den Heurtal findet AJ Glueckert in der Szene mit Giselle eine einschmeichelnde Tenorstimme, die sich in seinen politischen Momenten rollengerecht in ein aggressives, ja teilweise kläffendes Ausdrucksmittel verwandelt.
Das Quartett der Göttinnen Vérité – Anna Gabler, Bonté – Bianca Andrew, Beauté – Bianca Tognocchi und Souffrance – Judita Nagyová harmoniert stimmlich. Der Chor und Extrachor der Oper Frankfurt, dem eine gewichtige Rolle von Magnard beschieden wird, singt auf höchstem künstlerischem Niveau (Einstudierung: Virginie Déjos).
Man kann der Oper Frankfurt nur gratulieren für ihren Mut dieses schlussendlich komplexe Werk aufzuführen. Der Saal ist zwar an diesem Abend nicht komplett besetzt, doch die anwesenden Opernliebhaber wussten mit viel Applaus ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
Jean-Nico Schambourg, 3. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Alban Berg (1885-1935), Lulu Oper Frankfurt, 9. November 2024
Dmitri D. Schostakowitsch (1906-1975), Lady Macbeth von Mzensk Oper Frankfurt, 29. September 2024