Dieses Programm funktioniert perfekt: Hamburg ist begeistert und beschwingt

Anna Vinnitskaya, NDR Elbphilharmonie Orchester, Krzysztof Urbański,  Elbphilharmonie Hamburg, 14. Juni 2019

Foto: © Daniel Dittus

Elbphilharmonie Hamburg, 14. Juni 2019

Anna Vinnitskaya, Klavier
Krzysztof Urbański, Dirigent
NDR Elbphilharmonie Orchester

Konzerte für Hamburg“

Dmitri Schostakowitsch: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 102
Piotr I. Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

von Guido Marquardt

So eingängig und dennoch anspruchsvoll kann ein Schnupperkonzert sein: In ebenso beschwingten wie konzentrierten 60 Minuten zeigen Krzysztof Urbański, Anna Vinnitskaya und das NDR Elbphilharmonie Orchester, wie harmonisch sich musikalische und emotionale Kontraste ausdrücken lassen.

Die „Konzerte für Hamburg“ räumen gleich mit mehreren verbreiteten Vorurteilen über Veranstaltungen in der Elbphilharmonie auf. Erstens: Alle Karten gingen an Touristen, Pauschalreisenanbieter etc.  Nein – die „Konzerte für Hamburg“ sind exklusiv buchbar für Menschen mit Wohnsitz in der Hansestadt.

Zweitens: Die Karten seien viel zu teuer, Konzerte dort nur was für die oberen Zehntausend. Falsch – die Karten für alle Veranstaltungen dieser Reihe kosten je nach Platzkategorie 8, 16 oder 24 Euro.

Als weiterer Einwand von Bedenkenträgern ließe sich ins Feld führen, dass diese Konzertabende ja ein enormes Sitzfleisch verlangten. Irrtum: Die „Konzerte für Hamburg“ bieten allesamt einen komprimierten Einstieg in die Klassikwelt, mit einer Gesamtdauer von rund einer Stunde und ohne Pause.

Bliebe noch ein viertes Vorurteil, nämlich das eines elitären Programms für eine winzige Minderheit. Nun, abgesehen von zwei Konzerten mit der NDR Bigband gibt es bei den übrigen sechs Veranstaltungen zwei verschiedene Programme, die wiederholt aufgeführt werden. Eines mit der NDR Radiophilharmonie Hannover und dem Trompeter Simon Höfele – ein bunter Strauß mit Werken von Smetana, Haydn und Mozart. Klassik, selbstverständlich, aber alles andere als schwer zugänglich.

Und schließlich das Programm des NDR Elbphilharmonie Orchesters mit der Pianistin Anna Vinnitskaya: Schostakowitsch und Tschaikowsky, absolute musikalische Schwergewichte – hier aber vertreten mit zwei Werken, die sich auch in untrainierten Gehörgängen schnell festsetzen, ohne dass man gleich bei den ganz abgenudelten „Greatest Hits“ landen müsste.

© Daniel Dittus

Jugendlich-frisch federt Krzysztof Urbański, erster Gastdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, auf die Bühne und hat in den folgenden 20 Minuten des Schostakowitsch-Klavierkonzerts vor allem eine Mission: der Solistin am Klavier eine passende Begleitung zu bieten. Im lebhaften, kontrastreichen Kopfsatz darf das keinesfalls in allzu großer Unauffälligkeit enden, und das tut es auch nicht. Vielmehr gerät das Klangbild hell und luftig, das Marschthema klingt heiter und frisch, aber nicht militärisch-schwer. Anna Vinnitskaya geht das flotte Tempo souverän mit, ihr Anschlag bleibt dennoch eher geschmeidig, so dass die Ecken und Kanten fein poliert statt hart akzentuiert klingen.

Vielleicht noch etwas mehr kommt Vinnitskaya das Andante entgegen, von ihr als „einer der schönsten Sätze, die ich kenne“ bezeichnet. Zart und lyrisch klingt er, eher melancholisch als elegisch, wie das weiche Bett, das die Streicher ihr bereiten. Mit voller Aufmerksamkeit lässt sich auch wahrnehmen, dass die Bläser in diesem Satz nur beinahe Pause haben, denn ein ganz feiner Hornton trägt gegen Ende zur Grundierung bei.

Im dritten Satz geht es dann noch einmal mit viel Verve zur Sache, ähnlich wie im ersten Satz ist es das Paradoxon einer Art von „zurückhaltender Angriffslust“, das die Orchesterbegleitung hier auszeichnet – während die Solistin noch einmal Gelegenheit zu facettenreichem Virtuosentum bekommt.

Schostakowitschs Geringschätzung für dieses Klavierkonzert mag aus heutiger Sicht merkwürdig anmuten, doch sollte man dabei im Auge behalten, dass er es sozusagen als „Funktionswerk“ komponiert hat: Es diente seinem Sohn als Virtuosenstück für die Abschlussprüfung seines Klavierstudiums. Vielleicht ist es die solchermaßen von programmatischer und weltanschaulicher Last befreite Herangehensweise an die Komposition, die einerseits plausibel macht, dass Schostakowitsch hier keine große musikalische Bedeutung sah, andererseits aber auch die Leichtgängigkeit und anhaltende Beliebtheit des Werks erklärt. Großer Beifall.

Wenn eine Tschaikowsky-Sinfonie schon den Beinamen „Fatum“ trägt, kann man sich auf ein wuchtiges, emotionales Werk gefasst machen. Entstanden an einer in vielerlei Hinsicht wichtigen Schnittstelle seines Lebens (Beenden einer unglücklichen Scheinehe, Suizidversuch, Umzug, künstlerischer Erfolg und nicht zuletzt wirtschaftlicher Umschwung durch die Unterstützung einer reichen Gönnerin), entwirft Tschaikowsky hier das musikalische Bild des Schicksals als Damoklesschwert, das jederzeit mit seinen blechernen Fanfarenstößen das kleine und große Glück bedroht. Glück, das sich in Tagträumen, Fantasien und schließlich dem Besuch eines Volksfests („Freue dich an der Freude anderer – und das Leben ist doch zu ertragen“) zeigt, und dabei beständig von der Macht des Schicksals attackiert wird.

Kontrastreich wie Tschaikowskys Lebenssituation 1877/78 ist also auch dieses Werk angelegt. Den Blechbläsern kommt dabei hauptsächlich der Part zu, unerbittlich in die pastellenen Idyllen zu schmettern, die von den Holzbläsern in herrlichen Miniaturen gezeichnet werden, während sich die Streicher mal in die eine, mal in die andere Richtung neigen. Einen wahren Gänsehautmoment erschaffen die Streicher im ersten Satz, wenn sie im Pianissimo ein fernes Echo des Glücks skizzieren. Großartig auch, um wieder einmal zu demonstrieren, wie gut sich in diesem Saal die ganz feinen Töne und Strukturen zeichnen lassen.

© Daniel Dittus

Im zweiten Satz entsteht ein schwermütiger Fluss, der von der Oboe am Anfang und dem Fagott am Ende wunderbar gerahmt wird. Beide spielen die gleiche Melodie, und lassen die einzelnen Noten eher verschmelzen als sie punktuell zu artikulieren – eine stimmige Interpretation.

Die Streicher haben ihre Bögen zuhause vergessen? Dann könnten sie immer noch den dritten Satz aus Tschaikowskys 4. Sinfonie spielen. Mit nervös huschenden Pizzicato-Tönen tragen sie diesen Abschnitt, unterbrochen nur von kurzen Einwürfen der Bläser. Das ist beinahe schon ein Wellness-Programm in Orchesterversion, am Ende leise verklingend.

Im finalen vierten Satz, unmittelbar als Weckruf an den dritten Satz anschließend, wird dann alle Melancholie beiseite geschoben, und ein folkoristisch-rustikales Thema geht mit mächtig Tempo in den Infight mit dem Schicksalsmotiv. Das Spiel endet unentschieden, aber keinesfalls langweilig – Urbański legt noch mal die volle Energie in diesen Satz. Verdientermaßen großer Jubel am Ende.

Dieses Programm hat an diesem Abend für dieses Publikum perfekt funktioniert. Und das macht Hoffnung auf den einen oder die andere neu vom Klassikvirus Infizierte/n. Denn dass hier nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ sitzen, ist doch relativ offensichtlich, allein schon das wie selbstverständliche Klatschen zwischen den Sätzen spricht eine deutliche Sprache. Und bei einer Minderheit leider auch der unablässige Griff zum Smartphone …

Eventuell wurde hier, bei aller Niedrigschwelligkeit des Angebots, die Chance verpasst, durch eine kleine Conférence vor dem Konzert die Klassik- und Saal-Neulinge zu begrüßen und charmant auf zwei, drei Punkte hinzuweisen, die man eben nicht voraussetzen kann bei Menschen, die selten oder nie solche Veranstaltungen besuchen.

Mit dem zur Seite, auf die Hände geneigten Kopf macht der Maestro jedenfalls bei aller Begeisterung auch klar, dass der zweite Durchlauf dieses Programms innerhalb eines Abends auch eine konditionell fordernde Angelegenheit ist – da ist einfach keine Zugabe mehr drin. Und so strömt ein sehr zufriedenes Publikum beschwingt hinaus in den lauen Sommerabend.

Guido Marquardt, 15. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de

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