Fulminante Entdeckungen: Christian Thielemann und die Berliner Philharmoniker mit einem flammenden Plädoyer für den frühen Bruckner

Anton Bruckner, Sinfonie, f-moll, Sinfonie d-moll  Philharmonie Berlin, 29. Februar 2023

Christian Thielemann © Frederike van der Straeten

Anton Bruckner

Sinfonie f-moll
Sinfonie d-moll

Berliner Philharmoniker
Musikalische Leitung: Christian Thielemann

Philharmonie Berlin, 29. Februar 2023

von Kirsten Liese

Es ist doch zu schade, dass so große Bruckner-Dirigenten wie Eugen Jochum, Günther Wand und allen voran Sergiu Celibidache, der weiland eine Lanze für den Komponisten brach wie kein Zweiter, nicht mehr befragt werden können, warum sie dessen 1863 entstandene f-moll-Sinfonie und die 1869 vollendete d-moll-Sinfonie nie dirigiert haben. Schließlich handelt es sich bei diesen sehr selten aufgeführten Werken mitnichten um noch unbeholfene Gehversuche eines Anfängers, als vielmehr um bereits meisterlich instrumentierte Werke, die –  wie Christian Thielemann treffend bemerkt – spannende Einblicke in Bruckners Werkstatt geben.

Bruckner, damals Linzer Domorganist, war immerhin auch nicht mehr blutjung, als er die f-moll-Sinfonie schrieb, die streng genommen seine annullierte Erste ist, sondern bereits 39 Jahre alt. Als er die d-moll schrieb, eigentlich seine annullierte Zweite, war er 45.  Vergleichsweise schrieb Mozart seine erste Sinfonie als Achtjähriger, Joseph Haydn war 25, als er seine erste schrieb, Beethoven 29.

Vermutlich haben die wenig schmeichelhaften, fälschlichen Beinamen „Studiensinfonie“ und „Nullte“ entscheidend dazu beigetragen, dass man lange Zeit keine hohen Erwartungen an sie hatte, meint Thielemann, der selbst nicht damit gerechnet hätte, dass solche Kostbarkeiten zum Vorschein kommen würden, als die Wiener Philharmoniker den gesamten Brucknerzyklus an ihn herantrugen.

Das ereignete sich mitten im Corona-Lockdown, als alles stillstand, die Konzerte im Wiener Musikverein aufgenommen werden durften, aber ohne Publikum.

Christian Thielemann © Frederike van der Straeten

Die Konzerte mit den Berliner Philharmonikern nun sind mithin die ersten mit Publikum! Eine Premiere der besonderen Art also.

Und die Musik, die es hier zu erleben galt, und der Thielemann Gewicht gibt, indem er sie ebenso souverän ohne Noten dirigiert wie die etablierten Sinfonien drei bis neun, ist mit seinen Themen von einer solchen Herrlichkeit, dass es dem Zuhörenden kaum anders ergeht als den Musikern auf dem Podium, die sie beim Spielen sichtlich genießen: Voller Freude staunt man einfach nur, erbaut sich an dem Füllhorn des Wohllauts und findet ein Motiv immer noch reizvoller als das nächste.

Zwar erinnern in der f-moll Sinfonie Kopf- und Finalsatz noch verstärkt an Schumann, Carl Maria von Weber und mit einer Leichtigkeit, die Bruckner in keiner folgenden Sinfonie mehr einbrachte, an Mendelssohn. Aber zugleich ist Bruckners eigene Handschrift schon unverkennbar vorhanden, insbesondere im langsamen Satz und dem Scherzo.

In der „annullierten Zweiten“, wie wir die „Nullte“ fortan weniger abschätzig nennen, tönt dann alles nach Bruckner, hier bereits auch mit den für ihn so typischen weihevollen Choral-Anklängen im Andante, das mit seiner ganz, ganz leisen zarten gesanglichen Melodie tief anrührt.

Christian Thielemann © Frederike van der Straeten

Für einen Moment scheint da die Zeit völlig still zu stehen, wenn Thielemann seine Hände gar nicht mehr bewegt, alles so leise spielt, wie es nicht mehr leiser geht.

Daneben gilt es derart viele wunderbare Details zu entdecken, filigrane Cellosoli (wunderbar intim musiziert von Bruno Delepelaire), reizvolle reine Bläsereinlagen ohne Streicher oder prächtige Hörner- und Posaunenchöre, wie Bruckner für seine spätere Vierte, Fünfte oder Siebte keine herrlicheren schrieb, dass man –  kaum sind die Finalsätze verklungen – die Raritäten gleich noch einmal hören und den Gesamteindruck vertiefen möchte.

Auf dem Podium hat an diesem Abend die erste Garde der Berliner philharmonischen Bläsersolisten Platz genommen, gleich mehrfach treten Oboist Albrecht Mayer und Flötist Emmanuel Pahud in zauberhaften Dialogen in den Vordergrund, bisweilen im Trio noch erweitert mit dem Hornisten Guillaume Tétu (ausgeliehen vom Orchestre national de Lyon) wie vor allem im Andante der d-moll-Sinfonie, für mich einer der schönsten Satz des ganzen Abends. Da wagte man sich kaum noch zu atmen, als das poetische zarte Hauptthema in den Violinen wiederkehrte und unter dem feinen Pizzicato der tiefen Streicher noch geheimnisvoller tönte als zu Beginn.

Dass der erste Satz, das Allegro dieser Sinfonie, kein Hauptthema im strengen Sinne enthält, was einst der Wiener Hofopernkapellmeister Otto Dessoff 1870 bemängelte und damit Bruckner offenbar so stark verunsicherte, dass er einen durchgestrichenen Kringel über die Noten setzte, die der Sinfonie den unvorteilhaften Beinamen „Nullte“ eintrug,  stört nicht im Geringsten. Klanglich ist der Satz, in dem sich Thielemann vom atmosphärisch starken Beginn bis hin zu diffizilen Übergängen einmal wieder als ein Klangmagier par excellence empfiehlt, vom Allerfeinsten.

So sehr der Oberösterreicher sein ganzes Leben lang unter Selbstzweifeln litt, weshalb er nahezu alle Sinfonien in mehreren Fassungen immer wieder überarbeitete, und über seine d-moll Sinfonie ein so strenges Urteil fällte, dass er sie für „nichtig“ und „ungiltig“ befand, wie er über die Noten kritzelte, bewahrte er sie zumindest auf, während er so manche andere Stücke vernichtete. Im Gegenteil: Er bewahrte sie sogar in seiner Nachttischschublade auf. Irgendwie habe er doch geahnt, dass er an sie nochmal ran müsse, sagt Thielemann. Und verweist auf hörbare Bezüge zwischen dem Scherzo dieser Sinfonie und dem der unvollendet gebliebenen Neunten.

Mit einer solchen Verve dirigiert er diesen Satz auch, dessen markantes Hauptthema einem im inneren Ohr noch lange nachklingt. Überhaupt die von Bruckners frühen Scherzi ausgehende Energie: einfach Wahnsinn!

Davon ließ sich das sichtlich begeisterte Berliner Publikum in der ausverkauften Philharmonie vollends elektrisieren. Schade nur, dass die expandierende Berliner-Streik-Kultur manchen Konzertgängern den Abend verhagelte, die keine Chance hatten, in die Philharmonie zu gelangen. U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen blieben wieder einmal stehen, was vor allem diejenigen mit dem kleinsten Geldbeutel traf, die sich kein Taxi leisten können. Da war froh, wer sich wie ich in sein Auto setzen konnte.

Kirsten Liese, 2. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann, Anton Bruckner, Symphonie Nr. 9 d-Moll Musikverein Wien, Goldener Saal, 31. Mai 2022

Anton Bruckner Symphonie Nr. 8 in c-moll (Fassung 1887/90, erstellt von Robert Haas), Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann, 26. Februar 2023

Matinee Anima Eterna Brugge, Pablo Heras-Casado dirigiert Bruckners siebte Symphonie. Auditorium Grafenegg, 14. August 2022 

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