Andris Nelsons im Musikverein Wien: In andächtiger Stille sollte man verweilen!

Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons, Baiba Skride,  Musikverein Wien

Foto: © Dieter Nagl
Musikverein Wien,
 Goldener Saal, 11. September 2018
Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
Baiba Skride, Violine

Leonard Bernstein
Serenade nach Platons „Symposion” für Solovioline, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug
Dmitrij Schostakowitsch
Symphonie Nr. 4 in c-Moll, op. 43

von Jürgen Pathy

Der Mythos Leonard Bernstein lebt – anlässlich der weltweiten Feierlichkeiten zu dessen 100. Geburtstag lebendiger als je zuvor! Um den charismatischen Musiker und einen seiner Zeitgenossen auch in der Stadt der Musik hochleben zu lassen, gastiert kein Geringerer als Andris Nelsons und sein Boston Symphony Orchestra im Tempel der klassischen Musik, dem Goldenen Saal des Musikvereins Wien.

Bereits nach den ersten wehmütigen Tönen der lettischen Solistin Baiba Skride, 37, wird deutlich, woher der Wind in der Serenade für Solo-Violine, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug weht: Dieses große, schwierige Violinkonzert ist Leonard Bernsteins Hommage an dessen Alter Ego Gustav Mahler – mit Einflüssen Alban Bergs.

Wie ein Schweizer Präzisionsuhrwerk folgen die Musiker des Boston Symphony Orchestra dem Dirigat ihres Musikdirektors Andris Nelsons, dessen Bewegungen minimalistischer Natur sind – ein unauffälliger, unkapriziöser Dirigierstil. Beinahe scheint es, als würde der sensible Lette auf einer anderen Ebene, einer metaphysischen, mit seinen Musikern kommunizieren.

Passend zu dieser übersinnlichen Verbindung gesellt sich der Geist „Lenny“ Bernsteins dem herzergreifenden Adagio hinzu und bezieht entspannt am Balkon oberhalb der Bühne seinen majestätischen Sitzplatz – in der einen Hand ein Glas exquisiter Whiskey, in der anderen eine qualmende Zigarette, schenkt „Lenny“ der innigen Interpretation mit einem verschmitzten Lächeln seinen Segen.

Zum Abgang des US-amerikanischen Universalgenies, das am 14. Oktober 1990 diese Welt verlassen hatte, verblüfft Baiba Skride die Jenseitigen als auch die Diesseitigen mit einem Auszug aus einer Sonate Erwin Schulhoffs, einem virtuosen Zirkusstück. Die Tatsache auf keiner eigenen Violine zu musizieren – zur Zeit spielt die Lettin wieder auf einer Leihgabe, der Stradivarius „Yfrah Neaman“ –, empfindet die Preisträgerin des renommierten Queen-Elisabeth-Wettbewerbs als keinen Nachteil: Jede neue Geige gäbe auch „neue Impulse“.

Neue Impulse setzte auch Dmitri Schostakowitsch mit seiner 4. Sinfonie, mit der er den Schritt zum Chronisten seiner Zeit gemacht hat. Und diese Geschichte, die Andris Nelsons und sein amerikanisches Spitzenorchester hautnah schildern, offenbart Schreckliches: War der perfektionistische Klang im ersten Teil des Abends nicht immer zu hundert Prozent angebracht, verdeutlichen die scharf-akzentuierten, monotonen Streicher nun die bedrückende Tristesse des Schostakowitsch‘ schen Alltags.

Das pulsierende Hämmern, die schrillen Holzbläser, das drohende Blech: Alles in dieser beeindruckenden Interpretation veranschaulicht die Todesgefahr, der sich der russische Komponist während des stalinistischen Regimes ständig ausgeliefert sah. Trotz der prunkvollen Kronleuchter, die den Goldenen Saal in hellem Glanz erstrahlen lassen, verwandelt das Präzisionsuhrwerk des Boston Symphony Orchestra die Atmosphäre in ein tiefes Schwarz.

Vereinzelt funkeln in den Celli graue Schattierungen der Melancholie, jedoch verschwommen, als wären es nur verblasste Erinnerungen einer längst vergangenen Zeit. Auch die kurzen, aufmüpfigen forte-fortissimi-Explosionen und der choralartige Abschluss dieses gigantischen Meisterwerks können den tiefen Abgrund nicht erhellen, den Andris Nelsons mit seinem Innehalten nach dem letzten offenen Ton verdeutlichen möchte.

Neben großer Ehrfurcht und Respekt vor der perfekten Exekution dieser musikalischen Horror-Szenerie, schwingt ein anderes Gefühl nach: Mitleid mit dieser verzweifelten Seele, tiefstes Mitleid mit Dmitrij Schostakowitsch. Eigentlich passen die stehenden Ovationen nicht zu diesem großen Moment in andächtiger Stille sollte man verweilen!

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 12. September 2018, für klassik-begeistert.at

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