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Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen.
Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Im Fundus der Klassischen Musik gibt es viel zu viele Werke, die im gesellschaftlichen Bewusstsein vergessen oder in den Hintergrund gerückt sind. Finden solche Werke den Weg zurück zu breiter Beachtung, ist das eigentlich begrüßenswert. Doch leider ist damit heutzutage häufig eine Überrepräsentation, wenn nicht sogar ein medialer Verschleiß verbunden. Nehmen wir beispielsweise Griegs Peer Gynt Suite und wir werden uns erinnern, dass sie heute, im frühen 21. Jahrhundert dem modernen Trend erliegt, ein Stück so oft zu wiederholen, bis es keiner mehr hören mag. Und so handelt auch dieser Beitrag von einem Werk, das im Sinne dieses Trends seit einigen Jahren malträtiert wird. Die Rede ist von der „Nessun dorma“-Arie aus Giacomo Puccinis Oper „Turandot“.
Turandot ist ohne Zweifel ein besonderes Stück Operngeschichte. Nicht nur ist sie die letzte von Puccini komponierte Oper, deren Uraufführung er 1926 nicht mehr miterleben konnte. Auch der im fernen Peking spielende Inhalt verspricht Spannung, bevor er ins Klischee abebbt. Im Zentrum steht die namensgebende kaiserliche Prinzessin, die jeden Freier hinrichten lässt, der ihre drei Rätsel nicht lösen kann. Kalaf, Sohn des Tatarenkönigs, ist jedoch erfolgreich und erhält daraufhin die Hand Turandots vom Kaiser zugesprochen. Entsetzt über diesen Ausgang bittet Turandot daraufhin, von diesem Eid entbunden zu werden, was Kalaf ihr erlauben will, wenn sie bis zum nächsten Tag seinen Namen herausfände. Und wie es in Opern eben so ist – bei dem Versuch, seinen Namen zu erfahren, verliebt Turandot sich in dieser einen Nacht unsterblich in Kalaf und am Ende wird geheiratet.
„Nessun dorma“ (zu Deutsch: „Niemand schlafe“) stellt innerhalb dieser Oper eine Schlüsselstelle dar, die den Grundstein für den letzten Akt legt. Und Puccinis Können als Komponist ist es zu verdanken, dass dies eine der mitreißendsten Arien der Operngeschichte wurde. Sie folgt auf den Befehl der Prinzessin, dass niemand im Volke schlafen dürfe, bis Kalafs Name gefunden wäre. Wie aus dem Nichts entfaltet sich die Musik aus einem zunächst unmerklich klingenden ersten Choreinsatz, bevor Kalaf selbst zum Gesang anstimmt und sich zu einer wahren Siegeshymne erhebt, an deren Ende kein Zweifel mehr besteht, dass er die Prinzessin gewinnen wird.
Hierbei könnte man es nun belassen. Ein solcher Einstieg voller Dramatik über eine klassische Liebesgeschichte bis zum klischeehaftesten aller möglichen Ausgänge böte bereits genug Material, um sich darüber auszulassen. Nur zu nahe läge hier die Möglichkeit, sich über vertane Chancen zu beschweren, den fehlenden Realismus anzukreiden oder das Klischee von männlichen Heros, dem sofort alle Frauen verfallen, wieder aufzuwärmen. Der Inhalt ist wahrlich nicht die Stärke dieser Oper, auch wenn dieses Werk eine beeindruckende Komposition darstellt.
Die Feststellung aber, dass sich Opern als kulturelles Gut einem breiten Teil der Bevölkerung heutzutage verschließen, macht solch eine Diskussion müßig, würde sie doch nur auf Ebene einer akademischen Elite geführt werden können. Dieser traurige Umstand mag einerseits daran liegen, dass klassische Musik den (ungerechtfertigten) Ruf hat, generell zu langweilen, weswegen dieses kulturelle Erbe nicht jedermann zusagt. Und andererseits dürften moderne Inszenierungen, die sich regelmäßig mit Lächerlichkeit und Absurdität übergießen, ihr Übriges zum Opernverdruss beitragen.
Gerade deshalb ist es umso begrüßenswerter, wenn ein solcher – noch nicht allzu alter – „Geheimtipp“ zurück ins Rampenlicht drängt. „Nessun dorma“ dürfte nämlich spätestens seit dem medienwirksam ausgeschlachteten Auftritt von Paul Potts bei der Show „Britain got Talent“ 2007 auch breiten Massen bekannt sein. Allein zu Sendezeiten konnten Millionen Zuschauer dieses Event zuhause vor ihren Bildschirmen mitgenießen. Dazu kommt noch die Verbreitung auf YouTube – bis zur Veröffentlichung dieses Artikels haben alleine diesen Beitrag über 14-Millionen Menschen gesehen – und die Tendenz dürfte weiter steigen:
Dass dies eine Welle an Nachahmung auslöst, hätte damals bereits klar sein müssen. Puccinis Musik ist ja auch ein dankbarer Gegenstand: Eine klassische „aria di bravura“, in der ein Sänger (oder wahlweise eine Sängerin) große Klasse demonstrieren kann. Zu Paul Potts gesellen sich inzwischen auch Amira Willighagen, niederländisches Supertalent von 2013, Laura Bretan, amerikanisches Supertalent von 2016, Gruffydd Wyn 2018 wieder für „Britain got Talent“, Damiano Roi, italienisches Supertalent 2019, Vanessa Calcagno mit ihrem Auftritt beim deutschen Supertalent 2020 und viel zu viele weitere. Der Hype geht inzwischen so weit, dass der kanadische Sänger Marc Martel diese Arie sogar als – nicht unbedingt überzeugendes – Duett zwischen Pavarotti und Freddie Mercury intonierte:
https://www.videoman.gr/de/65582
Das Problem daran ist, dass die Musik selbst überreizt und somit auch der Banalisierung ausgeliefert wird. Nicht etwa ist ihre Stellung innerhalb der Oper entscheidend. Sondern heutzutage scheint es nur noch darum zu gehen, diese Arie auf Hochglanz poliert und mit möglichst ausdauernd gehaltenem hohen Liegeton darzubieten. Noch lauter, noch spektakulärer, noch medienwirksamer muss es sein. Ob es nun ergreift oder nicht – egal, Hauptsache das „H“ wurde noch ein paar Millisekunden länger gehalten als bei allen Sängern davor.
Was dieser Trend zum „Größer, Lauter, Besser“ in der klassischen Musik anrichten kann, hatte sich schon bei anderen Beispielen, wie den teils absurden Auswüchsen zu Rimski Korsakows Hummelflug gezeigt. Und auch die eingangs erwähnte „Peer Gynt Suite“ wird nicht nur unter diesem Aspekt regelmäßig malträtiert. „Nessun dorma“ reiht sich also nur in die Reihe der Werke, die heutzutage für Medienrummel und Sensationsgeilheit zerfleddert werden. Und das ist nicht einmal die Schuld der Sänger – Paul Potts und Co. konnten und können ja schließlich durch ihre Leistungen begeistern. Für sie ist Puccinis Musik ein Instrument zum Ausdruck. Den Vorwurf der Maßlosigkeit und Ausreizung im Sinne der Sensationslust muss man hier eindeutig den heutigen Mediengesellschaften machen.
Die durch diese Bagatellisierung und Überrepräsentation, erzeugte Übersättigung, die schließlich sogar im Verdruss enden kann, dürften dabei zum Problem werden. Ich beispielsweise mag „Nessun dorma“ einfach nicht mehr hören – weder in der Oper, noch im Fernsehen! Und das nur, weil es ein paar Mal zu oft begleitet von sensationsgetriebener Aufregung und unter dem Prädikat potenzieller Weltklasse über den Bildschirm geflimmert ist, um 5 Minuten Ruhm im Rampenlicht zu erhaschen und danach wieder in der Versenkung zu verschwinden.
Deshalb stelle ich abschließend auch die Frage, ob das Sinn der Sache sein kann, Musik unter dem Deckmantel der Medienwirksamkeit so zweckzuentfremden. Muss das wirklich sein, sie in reinster Freude am Spektakel so sehr auszuhöhlen und runter zu trällern, bis sie auch dem Letzten aus den Ohren kommt? Bis sie das ganze Land vor dem Fernseher oder Radio mitsummen kann und für viele dabei entweder die Wirksamkeit verloren geht oder die Begeisterung in Frust umschlägt? Ich bin ja ein Freund des gesunden Mittelwegs und des Maßhaltens. Und die Frage muss schon erlaubt sein, ob wir uns nicht alle wieder mehr daran orientieren sollten, als auf solch einen Verschleiß hinzuarbeiten.
Daniel Janz, 19. November 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 36: Julius Fučik – „Einzug der Gladiatoren“ (1899)
Lieber Herr Janz, dieses Mal kann ich Ihnen nicht zustimmen. Dadurch, dass ein Kunstwerk in den absurdesten Fassungen dargeboten wird, leidet nicht das Werk selbst. Die Mona Lisa mit Bart bleibt die Mona Lisa. Gute Musik ist unzerstörbar. Ich denke auch, dass dergleichen Massenverbreitung „klassischer“ Musik dieser selbst nicht schaden, sondern nur nützen kann im Sinne von „bad news are good news“. Lieber die „Morgenstimmung“ in fragwürdigen Fassungen als gar nicht.
Klar, Paul Potts hat diese Arie noch berühmter gemacht als die Drei Tenöre vor ihm, aber Pavarotti ist trotzdem unerreicht!
Prof. Karl Rathgeber
Lieber Herr Prof. Rathgeber,
ich danke vielmals für Ihre Meinung. Mein Punkt war jetzt allerdings nicht, dass die Musik selbst dadurch schlecht wird, sondern dass man als Zuhörer ihrer überdrüssig wird, wenn sie nicht nur oft präsentiert sondern auch noch aus dem Kontext gerissen wird. Der Ausdruck eines Kunstwerkes kann durch äußere Störeinflüsse so sehr überlagert werden, dass dasselbe Werk seine Wirkung nicht mehr entfalten kann. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, „Happy birthday“ auf einer Beerdigung zu spielen und dann auch noch von allen Trauergästen Freude und ausgelassenes Feiern zu erwarten. Und um dieses Prinzip geht es mir hier:
Das ganze Drumherum – in diesem Fall die mediengesteuerte Sensationslust – ist in meinen Augen der Aspekt, den es hier zu kritisieren gibt, weil dies (zumindest bei mir) dazu führt, dass der Genuss an der Sache verloren geht. Puccinis großartige Musik ändert sich dadurch nicht, aber die Wahrnehmung derselben (bei mir) als Zuhörer wird durch die äußeren Einflüsse so verlagert und gestört, dass die Musik am Entfalten ihrer ursprünglichen Wirkung gehindert wird.
Und ja, ich stimme Ihnen zu, auch ich würde Paul Potts und ganz besonders seine Nachahmer tausendmal für Pavarotti eintauschen – er bleibt einfach unerreicht.
Ihr
Daniel Janz