Daniels vergessene Klassiker 37: Die lange für verschollen gehaltene Sinfonie in g-Moll von Cipriani Potter ist Ausdruck geschichtsträchtiger Entwicklung

Daniels vergessene Klassiker 37: Die lange für verschollen gehaltene Sinfonie in g-Moll von Cipriani Potter ist Ausdruck geschichtsträchtiger Entwicklung  klassik-begeistert.de, 21. April 2024

unknown artist; Cipriani Potter (1792-1871); Royal Academy

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Stellen Sie sich vor, es ist 1817! Man ist Komponist aber der Durchbruch lässt auf sich warten, denn man lebt in Großbritannien, das von den Größen der Zeit mehr oder minder missachtet wird. Was gilt es zu tun?
Wahrscheinlich hat der damals 25 Jahre alte Philip Cipriani Hambly Potter sich dieselbe Frage gestellt. Ihn führten diese Überlegungen zunächst nach Wien, wo er sein Idol Beethoven kennenlernte, sich weiterbildete und dann nach Deutschland und Italien weiterreiste. Nur 2 Jahre später kehrte er als gestandener Pianist und Dirigent in seine Heimat zurück, um die Musikgeschichte des Empires auf den Kopf zu stellen.

Für die musikalische Entwicklung in Großbritannien kann Cipriani Potter kaum überschätzt werden. Seine Bildungsreisen und Kontakte machten ihn nicht nur zu einem anerkannten Pianisten, Komponisten und Dozenten. Auch gehörte er maßgeblich zu denjenigen, die an der Verbreitung von den Werken Mozarts, Beethovens und später auch Brahms mitwirkten. Und auch, wenn er zum Ende seines Lebens hin immer weniger komponierte, hinterließ er doch zahlreiche Werke, die bahnbrechend waren.

So lobte kein anderer, als Richard Wagner die zehnte Sinfonie in g-Moll von Cipriani Potter. Diese Verdienste und der daraus gewonnene Ruhm führen dazu, dass bis heute sogar eine Stradivari-Geige nach ihm benannt ist.

https://ncviolins.com/focus-instruments-violin-by-stradivari-cremona-1683-cipriani-potter/

Man könnte also meinen, dass Potter zu den Namen gehören müsste, die in unseren Konzerthäusern rauf und runter gespielt werden. Überraschenderweise ist aber genau das Gegenteil der Fall. Sein Name erscheint in deutschen Konzerthäusern, wie aus der Geschichte gestrichen. Das Vergessen geht sogar so weit, dass in einschlägigen wissenschaftlichen Quellen behauptet wird, seine zehnte Sinfonie sei seit jeher verschollen – ausgerechnet jenes Werk, das Richard Wagner so sehr faszinierte.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass diese so von Wagner geschätzte Sinfonie aber erhalten ist und heute als Sinfonie Nr. 6 bekannt ist. Das Drama um die Nummerierung ruft zwar weiterhin Spekulationen hervor, dass mindestens eine seiner Sinfonien verloren wäre. Doch die gute Nachricht darf wohl lauten, dass wir immerhin dieses Werk, das Wagner so sehr schätzte, auch heute noch hören können, wenn wir wollen. So befindet sich auf YouTube eine Aufnahme vom 27. September 2021 mit weiteren gut recherchierten Hintergrundinformationen zu Potter.

Und beim Reinhören in dieses so bedeutungsschwere Werk wird schnell klar, warum er so hohes Lob einheimsen konnte. Der Einfluss Beethovens wird bereits bei den feurigen Anfangsklängen des ersten Satzes deutlich. Nachdem die Streicher das markante Hauptthema vorstellen, werfen die Holzbläser ihr zartes Gegenthema ein. Aus dem so präsentierten Material formt Potter einen Satz, der aus dem Wechsel des kräftigen, von Fanfaren begleiteten Hauptthemas und des lieblichen, fast verspielten Gegenthemas lebt. Keine unnötigen Zwischenspiele, keine langen Überleitungen; alles sitzt auf den Punkt. Ein buntes Spiel der Kontraste, in dem Potter die Themen gekonnt variiert und moduliert, was dem ungeschulten Ohr womöglich erst nach dem zweiten oder dritten Hören auffällt.

Und ganz im Stile Beethovens folgt auf diesen ersten Allegro-Satz ein feines Andante mit volkstümlich anmutenden Melodien; wie ein Hirtengesang auf dem Felde. Doch Potter bleibt nicht beim Bild einer Blumenwiese unter freiem Himmel stehen, sondern lässt das Orchester in voller Lautstärke aufgehen, bevor er das Hauptthema in fast schon tänzerischer Weise von einer Tonart in die andere schickt. Verträumte Einwürfe von Horn, Klarinette und Fagott unter ständiger Begleitung anderer Holzbläser reichern diese Szene noch mit verschiedenen Farben an. Ein ganz reizvolles Klangspiel, das zum Schwelgen einlädt, wenn es nicht gerade eine Mischung aus Dramatik und Erhabenheit versprüht.

Kurz und knackig in nur wenigen Minuten schmückt Cipriani Potter im Anschluss den dritten Satz „Scherzo vivace“ ab. Dieses ausdrucksstarke Kleinod wirkt durch sein Tempo sehr belebend. Trabende Rhythmen und immer wieder durchbrechende Fanfaren und Pauken formen eine fast royal anmutende Szene. Wie zu einem königlichen Empfang auf einem Schloss.

Und doch lässt Potter erst im Finalsatz die Spannung richtig ausbrechen. Der rasante Streichereinstieg hätte so auch nahtlos aus dem dritten Satz folgen können. Doch die sich immer wieder auftürmenden Fanfarenstöße hier sind eine andere Qualität. Zielgerichtet führen sie in Ausbrüche des Orchesters, werden dabei von Tanzpassagen mit Ohrwurmcharakter unterbrochen und bauen sich erneut zum Ansturm auf, bis sie am Ende in ein Finale voller Dramatik führen. Schade, dass das Werk hier schon endet.

Mit seinen hochromantischen Anklängen beweist dieses Werk nicht nur seinen historisch wichtigen Stellenwert. Es zeigt durch die klar hörbaren Einflüsse anderer Größen seiner Zeit auch, wie tief Potters seine Musik in einem Umfeld aus Qualität und Einfluss verankerte. Auf dem Niveau können seine Kompositionen locker mit Beethoven, aber auch Schumann, Mendelssohn-Bartholdy und Brahms mithalten, was ihnen bis heute Aufführungspotenzial geben würde.

Warum Cipriani Potter so ganz vergessen zu sein scheint, erklärt sich also nicht. Viel eher wäre er eine jener vernachlässigten Persönlichkeiten, zu denen sich weitere Nachforschungen und Aufführungen sicher lohnen würden. Würde man seine – zum Teil recht kurzen Werke – nur das ein oder andere Mal in ein Konzert einstreuen, würde sich bald ein Publikum finden. Warum also nicht ein paar davon als neue Anreize aufführen? Neues Publikum ist gerade in der Zeit nach Corona wichtiger denn je! Und wenn dabei auch noch einige vergessene Größen den Weg zurück ins Rampenlicht finden, können wir alle davon nur profitieren.

Daniel Janz, 21. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!

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