Foto: Heitor Villa-Lobos (1887-1959) © wikipedia
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Viel zu selten treten wir Europäer im Konzert- und Kulturwesen aus unserem geografischen Kontext heraus. Dabei vergessen wir, dass die Tradition des klassischen Sinfonieorchesters spätestens seit dem 19. Jahrhundert weltweit vorhanden war. Trotzdem stehen Vertreter aus Afrika, Asien oder Amerika heutzutage immer noch so gut wie nie auf den Spielplänen. Man könnte glatt meinen, es gäbe in der Orchestertradition nur Deutschland und Österreich, in der Oper noch Italien und Frankreich und dann erst mit weitem Abstand ein paar Schlaglichter aus Russland, dem Baltikum und England. Zeit, das zu ändern – wie wäre es zum Beispiel einmal mit der vierten Sinfonie des Brasilianers Heitor Villa-Lobos?
Brasilien – da denkt man an Copacabana, Amazonas und Karneval, musikalisch an Samba und weitere lateinamerikanische Tänze. Dass es aber auch anders geht, bewies der 1887 in Rio de Janeiro geborene Heitor Villa-Lobos. Ganz fern solcher Klischees vereinte er in verschiedenste Stile: Romantik, Neoklassizismus, Impressionismus und alles gepaart mit dem Charme mittelamerikanischer Rhythmik und Leidenschaft. Kein Wunder, dass er aus dieser Mischung zutiefst beeindruckende Musik erschuf, die sich mit den Jahren stetig wandelte. Bis heute gilt Villa-Lobos als wichtigster Komponist Brasiliens, der auch als erstes international bekannt wurde.
Ruhm, den er nicht nur Fürsprechern (und teilweise innigen Freunden), wie Artur Rubinstein, Darius Milhaud oder Andrés Segovia verdankte. Auch sein musikalisches Oeuvre ist beachtlich – mehr als 1000 Kompositionen hinterließ er, darunter 12 Sinfonien, über 2 Dutzend sinfonische Dichtungen, Solokonzerte, Kammer-, Gitarren-, Vokalmusiken und eine Reihe von Opern. In Anbetracht dieser Fülle ist es eigentlich unverständlich, dass er nicht längst zum Standardrepertoire aller Orchester gehört.
Aus seinem frühen sinfonischen Schaffen sticht unter anderem seine Programm-Sinfonien-Trilogie heraus. Auch wenn in Deutschland direkte Quellen dazu fehlen, so ist anzunehmen, dass Villa-Lobos diese im Eindruck des ersten Weltkriegs schrieb. Darauf deutet neben den Titeln auch die Entstehungszeit hin: Seine dritte Sinfonie mit dem Titel „Der Krieg“, seine vierte mit dem Titel „Der Sieg“ und seine fünfte – heute verschollen – mit dem Titel „Der Frieden“ entstanden alle um die Jahre 1919/1920.
Die Schrecken des ersten Weltkriegs waren also frisch im Bewusstsein der Welt. Dieser muss auch für Villa-Lobos’ Schaffen zum prägenden Erlebnis geworden sein. Zwar war er selbst nicht direkt betroffen – er hatte nie gedient und auch Brasilien blieb lange Zeit neutral, bevor es 1917/1918 in den Kampf um die Westfront mit eingriff. Aber es fällt auf, dass Villa-Lobos ab diesem Zeitpunkt seine Tonsprache von einem romantischen in einen impressionistischeren Stil wandelte. Eine Entwicklung, die sicherlich auch durch ein Staatsstipendium in Paris 1923/24 begünstigt wurde.
Seine vierte Sinfonie liegt so mit ihren beiden Schwestersinfonien genau zwischen romantischer Klangfülle und impressionistischem Musikfluss. Der in ihr verarbeitete Ansatz ist so breit, dass man damit einen ganzen Abend füllen könnte. Villa-Lobos kondensiert dies auf eine knappe halbe Stunde, voller Brisanz, Leidenschaft und Anspielungen auf brasilianische Volksmusik. Beim Anhören beschleicht einen schnell Trauer, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet seine fünfte Sinfonie über den Frieden heute verschollen ist. Die Pracht und Fülle, in der er in seiner vierten Sinfonie den Sieg auskleidet, lässt auf noch so viel mehr Schönes im Frieden hoffen.
Dabei ist der harsche Beginn noch in einer Tonsprache, wie schon in seiner dritten Sinfonie. Posaunenstöße und donnernde Trommelsalven dominieren. Wie aus Maschinengewehren preschen sie vor, als wäre der Krieg noch im vollen Gange. Gleichzeitig aber bereiten sie das Hauptthema des Sieges vor, das hier noch wie ein frommer Wunsch anmutet.
Dieses Thema bildet den roten Faden in einer sonst episodischen Musik. Alles steuert darauf hin. Selbst in diesem Beginn, der voller Ausdrücke und Klangfarben von einer Szene in die nächste fließt: Erst ergießt es sich in einen stürmischen Hymnus. Dann folgen heroische Hornpassagen. Dann leitet Villa-Lobos in eine Klangmagie aus Holzbläsern, Harfe, Klavier und Xylophon ein, die so auch aus Holsts Planeten oder Prokofjews Skytischer Suite stammen könnte. Das Ende mit einer sehnsüchtigen Streicherszene gespickt mit Glocken und vollem Bläserklang inklusive Tamtamschlägen passt da wunderbar ins Bild einer hoffnungsvollen Aussicht auf Sieg und Frieden. Eigentlich schade, dass dies nur knapp 7 Minuten dauert – Gustav Mahler hätte diesen Reichtum glatt auf eine halbe Stunde Musik ausgedehnt.
Auch Satz 2 besticht durch Farbenreichtum, der die allgegenwärtigen Tanzrhythmen von einem Hoch ins Nächste führt. Der Satz ist zwar mit „Andantino“ überschrieben, musikalisch findet sich hier aber tatsächlich eher einen Samba. Besonderes Augenmerk liegt neben einem Zitat der Marseillaise (wohl als Versinnbildlichung von Freiheit durch den Sieg) auch auf der Instrumentation. Villa-Lobos verlangt neben dem klassischen Sinfonieorchester auch Exoten, wie Euphonium, Saxophone, Kornette, ein Clairon und andere Bügelhörner sowie etliche seltene Schlaginstrumente. Die meisten davon lagert er für besonders flirrende Effekte in ein Bläserensemble aus. Oft weckt das durch den Mix mit den Holzbläsern Assoziationen an eine Inka-Spielband. Ob beabsichtigt, sei dahingestellt.
Untypisch für ein Andante beginnt der dritte Satz mit einer Elegie aus Bassklarinette und Kontrafagott. Zu dieser stoßen bald die Hörner hinzu und saugen in eine Stimmung wiegender Gebanntheit hinein. Strawinskys Sacre du printemps schwingt hier klanglich mit – kein Wunder, hat er auf Villa-Lobos doch einen großen Einfluss ausgeübt. Und auch ganz wie zu den Leitrhythmen Strawinskys entfaltet sich die Melodie zu diesem dunklen Gröhlen. Wie ein Klagegesang breitet sie sich zunächst aus, ehe der Wiegenklang auf andere Orchestergruppen übergreift und die ersten hellen Momente dieses Satzes bildet. Mal zwischen unerfüllter Sehnsucht und in sich gekehrter Verklärung schwankend kleidet Villa-Lobos diese Stimmung aus. Ein richtig faszinierendes Klangbild, auch wenn es unvermittelt endet.
Das Finale beginnt dazu regelrecht schillernd. Flirrende Reminiszenzen des Hauptthemas aus Satz 1 in den Holzbläsern und ein markiger Rhythmus im Blech bilden eine geradezu fröhliche Grundlage für den Streicherfluss. Ein erster Versuch der Bläser, in einen feierlichen Hymnus auszubrechen, verebbt in einer traumhaft verklärenden Szene aus Harfe, Celesta, hohem Streicherzirpen und Flöte. Als danach die Klarinette einen fast überspitzten Siegestanz anstimmt, gibt es nach dem ersten Moment der Irritation und Neuordnung kein Halten mehr. Eingeleitet von den Streichern setzt eine Instrumentengruppe nach der anderen ein und spätestens als das Blech erneut ins Hauptthema einstimmt, bricht der Siegeshymnus durch. Ganz dem Sinfonietitel entsprechend endet die Sinfonie in einem tosenden Finale.
In der Tat bricht die Musik von Villa-Lobos ein Stück mit europäischen Hörgewohnheiten. Das Hauptthema ist beim ersten Hören nicht immer eindeutig erkennbar. Und besonders die Schlussakkorde baut Villa-Lobos ohne die markante Schlusswirkung auf, die man von bekannten Klassikern kennt. Dennoch ist diese Art der Musik ein derart sinnliches Erlebnis, dass sie eigentlich in jede Konzerthalle der Welt gehört. Bereichernd ist diese vierte Sinfonie auf jeden Fall. Und was gibt es Schöneres, als nach einer großen Herausforderung und viel Kampf endlich das Ergebnis zu sehen – den Erfolg zu spüren oder den Sieg zu schmecken? Das drückt dieses Werk wunderbar aus. Deshalb möchte ich es hiermit wärmstens empfehlen!
Daniel Janz, 12. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 13: Weli Muhadow – Sinfonie Nr. 2 „Heroische“ 29. Januar 2023
Daniels vergessene Klassiker Nr 12: Paul Hindemith klassik-begeistert.de, 15. Januar 2023
Daniels vergessene Klassiker Nr 11: César Franck klassik-begeistert.de, 1. Januar 2023