Daniels vergessene Klassiker Nr 16: Dmitri Schostakowitsch – Violinkonzert Nr. 2 (1967)

Daniels vergessene Klassiker Nr 16: Dmitri Schostakowitsch – Violinkonzert Nr. 2 (1967)

Foto: https://www.mphil.de/orchester/musikerinnen-und-musiker/details/dmitrij-schostakowitsch

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Das Solokonzert – eine der konzertanten Gattungen, die seit jeher den klassischen Orchesterbetrieb prägen. Wo sonst kann ein Instrument aus den Vollen schöpfen? Wenn es als solistische Stimme im Vordergrund steht? Wenn alle anderen Instrumente nach dessen Leitung spielen? Kein Wunder, dass es zu einer der dankbarsten und am häufigsten bedienten Gattungen im Konzertbetrieb wurde – mit Wurzeln weit zurück bis in den Barock. Natürlich kristallisieren sich bei so einer langen Tradition über die Zeit einige wenige als große Meisterwerke heraus. Während sie aber diese Gattung dominieren, sind etliche andere fast vergessen. Ein Los, das selbst Solowerke von Komponisten traf, die einen hervorragenden Ruf genießen. Wie beispielsweise Dmitri Schostakowitsch und sein zweites Violinkonzert.

Ich bin kein Freund dieser ausgebildeten Solokonzert-Tradition. Meiner Meinung nach setzt sie falsche Maßstäbe an ein musikalisches Erlebnis: Filigranität über Empfindsamkeit, Schnörkeligkeit über Erhabenheit, das Soloinstrument als einzig konsequent ausgeformter Stimmführer, während das Orchester viel zu oft zu schmückendem Beiwerk reduziert wird. Immer wieder beschleicht mich bei Solokonzerten das Gefühl, dass es eigentlich nicht mehr, als das solistische Instrument gebraucht hätte, um denselben Ausdruck zu erzielen, für den hier fast 100 Musiker auf die Bühne gezerrt werden – ein paar Gegenbeispiele, wie u.a. Dvořáks wunderbares Cellokonzert, Saint-Saëns Klavierkonzerte, die Solokonzerte von Johannes Brahms oder Don Quixote von Richard Strauss einmal ausgenommen.

Gerade das ist einer der Gründe, weshalb ich das zweite Violinkonzert von Schostakowitsch in diese Reihe mitaufnehme. Dieses Werk wird bis heute sträflich vernachlässigt und ist dementsprechend wenig bekannt, fast schon vergessen könnte man sagen – einer jener unterrepräsentierten Klassiker, für die ich diese Kolumne begonnen habe. Es steht stark im Schatten von Schostakowitschs erstem Violinkonzert, das nicht nur ein viel größeres Orchester verlangt, sondern auch in einer Zeit entstand, in der Schostakowitsch umstrittener war denn je. Insofern lässt sich zu diesem ersten Werk eine bessere Narrative aufbauen, als zu dem zweiten Violinkonzert, das Schostakowitsch gegen Ende seines Lebens schrieb.

Aber trotz der publikumswirksamen (und ja auch nicht unwahren) Geschichte um den zeitweise in seiner Heimat geächteten Komponisten rechtfertigt das erste Violinkonzert meiner Meinung nach seinen guten Ruf nicht. Nicht nur beschleicht mich hier stets das Gefühl, dass es das große Orchester nicht gebraucht hätte (und die Verbindung von Passacaglia mit Trauer hat mich nie überzeugt, was den gesamten dritten Satz für mich zu einem der zähesten musikalischen Erlebnisse seit jeher macht). Auch überzeugt es mich kompositorisch nicht – zu lang und aufgebläht erscheint es mir. Eine Reduzierung der Mittel und Zusammenkürzen der Musik auf das Wesentliche hätte diese Stück deutlich aufgewertet.

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Im Gegenzug dazu erscheint das zweite Violinkonzert wie geläutert. Hier findet sich all jenes, was ich beim ersten bemängele: Eine Reduzierung der Mittel auf das Wesentliche, der Fokus auf der Violine als Leitinstrument, ohne das Orchester zu vergessen, eine sparsame, stellenweise kammermusikalische und dadurch umso wirksamere Anwendung von Effekten und Nebenstimmen – als wäre dieses Werk die Quintessenz eines Lern- und Entwicklungsprozesses. Es ist kein Wunder, dass dieses zweite Violinkonzert je nach Spieltempo 10 bis 15 Minuten kürzer ist als das erste.

Auch ist es vom Ausdruck viel intimer und dadurch konzentrierter. Das Eingangsthema der Violine quer zum aufbrausenden Bass stellt roten Faden sowie Kontrast dar, die das ganze Werk bestimmen – eine einzelne Stimme voller Sehnsucht und Bitterkeit, die in ihrer Endlosmelodie ununterbrochen kämpfen muss, um nicht im Tosen der Außenwelt unterzugehen. Obwohl diese Gänsehautmusik das Gegenteil vom einlullenden Klang eines Mozarts vermittelt, ist sie bemerkenswert ergreifend. Eine eiskalte Verwebung impulsiver Geigenschreie und verloren wirkender Hoffnungsmomente. So auch, wenn die Violine in Duette mit Flöte oder Horn einstimmt, bevor eine Röhrentrommel das Treiben regelrecht kaputtschlägt. Wie dieses vergleichweise kleines Orchester so erschüttern kann, ist schon eine Kunst.

Im Gegensatz zum ersten, durch seine Sonatenhauptsatzform doch sehr plastischen Satz, ist das Adagio des zweiten Satzes ein düster gehaltenes Kleinod, das kaum aus seiner zu Tode betrübten Stimmung herausfinden mag. Egal, wie sehr die Violine noch in ihre verklärend hohen Register steigen mag. In Analysen dazu liest man oft von einem dissonanten Klang – und doch steht dieses Konzert dem Klangideal moderner Avantgardisten krass gegenüber. Es ist den Gehörgewohnheiten zugeneigt und durch wiederkehrende Motive auch stets nachvollziehbar. Das ist Musik, die man nicht nur intellektuell erfahren, sondern intuitiv nachspüren kann!

Dazu sticht hier nach der ersten Hälfte des Satzes auch eine gehörige Portion Trotz heraus, als die Violine mit ihren Doppelgriffen in völliger Einsamkeit aufblitzt. Erst nach dem Einsetzen der anderen Streicher, deren Begleitung hier sogar überraschend genau dem Aufheulen einer Sirene gleicht, mag sich die Solovioline wieder beruhigen. Was folgt dürfte eine der wirksamsten Schlusswendungen sein, die Schostakowitsch jemals auskomponiert hat, mit einem wunderbar friedvollen Hornsolo.

Danach hat die Solovioline ihren Biss wiederentdeckt und kann in einen aufständisch kecken Schlusssatz hineinstürmen. Regelrecht garstig kratzt sie hier gegen die Einwürfe aus dem Orchester an. Immer wieder ist der Solist dabei angehalten, aufzustampfen und seinem Klang noch mehr Nachdruck zu verleihen. Da hilft auch das Aufdonnern der Pauke und einer zweiten Röhrentrommel nichts. Viel eher schaukeln sie sich gegenseitig zu einem wahren Feuerwerk auf. Brillant auch, wie Schostakowitsch hier – wie in allen Sätzen – extrem knifflige Solokadenzen der Violine versteckt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Solokonzerten wirken sie hier organisch, fast schon natürlich und nicht wie ein Einbruch der Dramaturgie.

Dieses absolut faszinierende Werk inklusive explosivem Finale ist mit Sicherheit eines der am schärfsten pointierten Solokonzerte der jüngeren Orchestermusik. Darüber hinaus ist es auch ein Erlebnis, das viel öfter in unsere Konzertsäle gehört. Bisher konnte ich es nur einmal live hören, habe mich aber sofort in es verliebt! Und auch der Umstand, dass es von diesem Werk nur wenige Aufnahmen gibt, tut ihm Unrecht. Wie schon dargelegt, ist es meiner Meinung nach Schostakowitschs erstem Violinkonzert deutlich überlegen und hat einen höheren Stellenwert verdient. Und das, obwohl das erste Violinkonzert viel öfter aufgeführt wird. Zugegeben – es ist schwere Musik, zu der der Zugang erst einmal wachsen muss. Aber sobald das gelungen ist – und ich behaupte, hier gelingt das schnell und intuitiv –, dann ist das Erlebnis umso dankbarer.

Daniel Janz, 12. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker

Daniels vergessene Klassiker Nr 15: Dame Ethel Smyth – Serenade in D (1889 – 1890) klassik-begeistert.de, 26. Februar 2023

Daniels vergessene Klassiker Nr 14: Heitor Villa-Lobos – Sinfonie Nr. 4 „Der Sieg“ klassik-begeistert.de, 12. Februar 2023

Daniels vergessene Klassiker Nr 13: Weli Muhadow – Sinfonie Nr. 2 „Heroische“ 29. Januar 2023

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