Daniels vergessene Klassiker Nr 20: Amy Beach – Sinfonie in e-Moll – „Gaelische Sinfonie“

Daniels vergessene Klassiker Nr 20: Amy Beach – Sinfonie in e-Moll – „Gaelische Sinfonie“

Amy Beach, www.amybeach.org, Photographer: Bachrach

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Komponistinnen sind nach wie vor im Orchesterbetrieb unterrepräsentiert. Wie vor 100 Jahren gibt es immer noch eingefleischte Konzertliebhaber, die ernsthaft der Überzeugung sind, es gäbe keine hochstehende Musik von weiblichen Tonsetzern. Dieses Klischee aus der Steinzeit wurde auch in dieser Kolumne schon das ein oder andere Mal widerlegt. Um weiter an den Grundfesten dieser Überzeugung zu rütteln, sollen die nächsten 5 Beiträge in einer Art „Special“ der vergessenen Klassiker einmal ausschließlich herausragende Kompositionen von Frauen betrachten. Den Anfang macht ein Werk, das vollumfänglich fasziniert, auch wenn es (zumindest bei uns) gänzlich unbekannt ist: Die Gaelische Sinfonie von Amy Beach.

Amy Beach, geborene Cheney, war die erste amerikanische Frau, die eine Sinfonie schrieb. Die 1867 in Henniker, New Hampshire geborene und 1944 in New York City an einer Herzkrankheit verstorbene Künstlerin kann auch deshalb nicht genug beachtet werden. Schon früh wurde sie wegen ihres absoluten Gehörs als Wunderkind dargestellt. Komponieren konnte sie angeblich bereits im Alter von 4 Jahren. Und zu ihrer Lebzeit war sie auch einigermaßen berühmt, was unter anderem ihre Kompositionsaufträge für die Weltausstellungen 1893, 1898, 1904 und 1915 belegen. Auch eine dreijährige Tournee nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1910 verschaffte ihr europaweit Aufmerksamkeit. Da ist es schon verwunderlich, wie so eine Ikone bei uns heute gänzlich unterrepräsentiert sein kann.

Obwohl sie aber angesehen, talentiert und auch als Frauenrechtlerin aktiv war, beschränkte sich ihre Kompositionstätigkeit auf einige wenige Werke. Heute sind überwiegend Lieder, Klaviermusiken und Kammermusiken von ihr überliefert, obwohl sie auch sinfonisch tätig war. In Werkverzeichnissen finden sich von ihr unter anderem auch zwei Messen und ein Klavierkonzert. Und eben jene einzige Sinfonie, die sie hinterließ: Ein Werk, das damals wie heute als Meilenstein der amerikanischen Konzertgeschichte gilt.

Diesen hervorragenden Ruf hat Amy Beachs einzige Sinfonie nicht nur deshalb, weil sie als erste von einer Frau geschriebene Sinfonie in die amerikanische Geschichte einging. Auch der Höreindruck ist ganz und gar herausragend und bis heute anerkannt. Zeitgenössische Kritiker sprechen beispielsweise von einem Werk voller „Herz und unwiderstehlichem Charme bei selbstsicherem Fortgang“ oder sogar „mit Abstand der feinsten Sinfonie eines amerikanischen Komponisten, noch vor Ives und auch bei weitem besser, als vieles was nach ihm kam“.

Dabei ist diese Sinfonie nicht nur mit herrlichen Melodien und Verläufen gefüllt. Bereits ihr Name weist darauf hin, dass sich Amy Beach auch einer alt-europäischen Grundlage bedient hat. So finden sich in ihrer Sinfonie vor allem Entlehnungen auf Jahrhunderte altes Liedgut, wie einen keltischen Gesang „Dunkel ist die Nacht“. Dasselbe Lied arrangierte sie noch einmal getrennt zu dieser Sinfonie mit den Worten des Englischen Dichters William Ernest Henley. Darüber hinaus lassen sich auch Bezüge zu Antonín Dvořák aufzeigen, der Amy Beach sehr beeinflusste. Im Gegensatz zu Dvořák und auch ihren späteren Werken verarbeitete sie in ihrer Sinfonie allerdings keine musikalischen Elemente der Ureinwohner Amerikas.

Schon der Beginn dieses Viersätzers kann durch seine Konzentration auf das erst als Trompetenfanfare präsentierte und dann durch mehrere Tonarten wandernde Thema beeindrucken. Ganz klassisch stellt Amy Beach diesem Thema einen lyrischen Part entgegen und läd so zu einer fast schon Brahms’schen Sonatenhauptsatzform ein. Obwohl sie hier immer wieder neue Eindrücke eröffnet, bleibt das Fanfarenthema als eine Art Leitmotiv erhalten und bildet den roten Faden in einer Welt voller Klang- und Melodiereichtum. Entsprechend entfällt auch die gesamte Entwicklung dieses Satzes auf eben jenes impulsive Motiv, das durch die zahlreichen lyrischen Motive (ich erkenne mindestens 3 unterschiedliche) ständig eingefangen und ein Stück weit ausgebremst wird. Das genügt für 10 Minuten mitreißendes Auf und Ab mit dramatischem Schluss.

Foto: amybeach.org, Amy Beach Symphony Cover-Photo

Der zweite Satz beginnt mit einen wunderbar elegischen Einstieg über das erst vom Horn, dann von der Oboe vorgetragenes Gesangsthema, das Amy Beach in einem klassischen Orchestersatz begleitet. Was hier hervorsticht ist jener Volksmusikcharakter, der an Beethovens Sinfonien erinnert. Im durch Streicherflirren geprägten Gegenpart bricht sie diese Assoziationen aber auf und eröffnet eine wunderbar bewegende Tanzszene; Triangel und wirbelnde Rhythmen inklusive. Spannend ist auch, wie sie dieses Treiben abrupt enden lässt, um das Gesangsthema noch einmal vom Englischhorn rezitieren zu lassen. Das ist wirklich ein Wechselbad der Stimmungen.

Der dritte Satz steigt im Kontrast dazu etwas schleppend ein. Auch hier überwiegen liedhafte Motive. Hauptaugenmerk liegt in den ersten Takten auf der Solovioline, deren Gesang durch die trübe Einfärbung an ein Trauerlied erinnert. Immer wieder erklingt sie alleine oder in Begleitung nur weniger anderer Instrumente. Demgegenüber stehen eine zunächst choralartig klingende Passage und dann eine volle Blechbläserepisode. Wie als Reaktion darauf erklingt das Trauerlied in wechselnder Instrumentation. Ein faszinierendes Erlebnis, wie sie einem so ergreifenden Gesang durch unterschiedliche Einfärbung so viel Ausdruck abgewinnen kann.

Es erscheint nicht übertrieben, diesem dritten Satz einen Schwerpunkt in dieser Sinfonie zuzuschreiben. Von allen Sätzen ist er nicht nur der längste, sondern auch abwechslungsreichste, ergreift er doch in seinen an Trauer grenzenden und sehr zart instrumentierten Episoden, tröstet durch belebende Zwischenspiele darüber hinweg und türmt sich in erhabende Bläserchoräle auf. Da ist es schon ein Kunststück, wie sie es am Ende nach so vielen Stimmungsübergängen schafft, sehr leise mit der Solovioline und Bassklarinette auszuklingen. Ein dramaturgisch wirklich fabelhafter Satz!

Der darauffolgende Finalsatz könnte kaum besser vorbereitet sein, startet es doch gleich in die Vollen. Im Gegensatz zu den Sätzen davor herrschen hier ein prachtvoller Bläserklang und den Verlauf bestimmende starke Bässe vor. Immer wieder türmen sich diese in Richtung Höhepunkt auf, nur um wieder abzuebben. Erst beim finalen Auftürmen, als Amy Beach das Orchester in ein strahlendes E-Dur führt, ergreift einen endlich auch das Gefühl der Ankunft. Das sich daraus aufbauende Finale ist in seiner Strahlkraft dann auch in der ganzen Sinfonie unübertroffen. Ein wirklich herausragender Abschluss!

Beim Anhören dieses Werks ergreift mich Trauer, dass dies Amy Beachs einzige Sinfonie geblieben ist. Allein, wie sie die einzelnen Sätze und Themen durchführt, lässt großes Talent erkennen. Ähnlich, wie auch bei Lili Boulanger oder Fanny Hensel entsteht hier der Eindruck, es mit einem herausragenden Talent zu tun zu haben, das sich womöglich aufgrund ihrer Lebensumstände nicht voll entfalten durfte. Auch deshalb sollten wir die Werke ebenjener Frauen viel öfter aufführen und hören. Denn wir haben es hier mit Schätzen der Orchestermusik zu tun, die uns neben wunderbaren Orchestererlebnissen auch viel lehren können. Insofern freue ich mich darauf, weitere dieser Schätze auszugraben und hoffe, dass es Orchester gibt, die das ebenfalls tun. Wir alle können dadurch nur gewinnen!

Daniel Janz, 7. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker

CD-Rezension: Emilie Mayer, Komponistin, Symphonies Nos. 6 & 3 klassik-begeistert.de

Rezension La Compositrice – Komponistinnen der frühen Neuzeit und Gegenwart, Allerheiligen Hofkirche, München, 6. März 2022

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