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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Zeitgenössische Musik – da gibt es nur Chaos und verkopfte Experimente. Nicht nur Klassikliebhaber prägen solche Klischees. Gepaart mit dem Vorurteil, dass Klassik ansonsten nur durch alte, weiße Männer bestimmt wird, jagt dieser Eindruck heutzutage das Publikum aus den Konzertsälen. In der Folge hat Klassische Musik unter der aktuellen Jugend einen seltsam schlechten Stand, obwohl Orchestermusik als Filmmusik oder in Social-Media-Formaten präsenter ist, als jemals zuvor. Dass sich solche Klischees trotzdem halten, kann nur an einer Versteifung unserer Konzertbetriebe auf einige wenige Komponisten (♂) und Klangideale liegen. Der Beitrag heute soll daher einmal den Blick auf eine Person lenken, die als zeitgenössisch komponierende Frau gleich mit beiden Klischees bricht: Lera Auerbach.
Die 1973 in Tscheljabinsk, Sowjetunion, geborene und heute in den USA lebende Österreich-Russin verbindet in ihrer Musik zahlreiche Welten. Als Kind einer jüdischen Familie, die im Zweiten Weltkrieg einige Angehörige verlor, sowie als Künstlerin der Sowjetunion wurde sie früh geprägt. Ihre bewusst mit der Freiheit moderner Kompositionstechniken angereicherte Klangsprache wird bis heute dadurch bestimmt. Daraus entsteht eine Musik so ergreifend wie modern, dass sie aus einer Szene herausragt, die sich in Experimenten erschöpft – diverse Titel und Auszeichnungen inklusive.
Dementsprechend bekannt ist sie. Dass ihre Musik im regulären Betrieb trotzdem kaum gespielt wird, verwundert. Denn ihre Werke verbinden Technik, Tonalität und plastischen Ausdruck; humanistische Botschaften mitinbegriffen. Zugute kommt ihr dabei auch ihre Autorentätigkeit. 1996 zeichnete sie die internationale Puschkin-Gesellschaft dafür sogar zur „Schriftstellerin des Jahres“ aus. Auch ihre „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“, 2022 parallel zum russischen Überfall auf die Ukraine entstanden, könnten nicht aktueller erscheinen, auch wenn sie selbst in einem Blogbeitrag zugibt, dass sie bei dieser Komposition ursprünglich nicht an Putin gedacht hatte.
In dieses Bild passt auch ihre erste Sinfonie, 2006 von den Düsseldorfer Symphonikern in Auftrag gegeben und 2007 uraufgeführt. Bereits der Titel „Chimera“ kann im biologischen Sinne (eine Kreatur, die aus genetischem Material mehrerer Individuen besteht), als Mischwesen aus der Griechischen Mythologie oder als illusionärer, unerreichbarer Wunsch verstanden werden. Inspiration dazu dürfte auch aus Auerbachs vorherigem Ballet „Die kleine Meerjungfrau“ entsprungen sein; die Geschichte nach Hans Christian Andersen, in der jene titelgebende Meerjungfrau (per Definition selbst ein chimäres Wesen) ihre tierischen Anteile ablegt, um ein Mensch zu werden und mit ihrem Geliebten zu leben, nur um sich nach Enttäuschung dieses Wunsches in ein geisterhaften Wesen zu verwandeln.
Der Mammutaufgabe, alle drei Aspekte des „Chimären“-Begriffs in einem Werk abzudecken, zeigt sich Auerbachs erste Sinfonie gewachsen. In einem an Genialität grenzenden Akt verbindet sie all diese Eigenschaften in 7 Sätzen: Den unerreichbaren Traum, mystische Mischwesen, Illusionen von Frieden und Unerreichbarkeit und der Tod, der am Ende aller Dinge wartet. Es verwundert nicht, dass sie den Sätzen ihrer Sinfonie entsprechende Titel gab, die ich versucht habe, sinngetreu ins Deutsche zu übersetzen:
1. Aegri somnia (Des Kranken Traum)
2. Post tenebras lux (Nach der Dunkelheit, Licht)
3. Gargoyles
4. Et in Arcadia ego (Ich [Tod] bin hier, selbst in der perfekten Natur)
5. Siste, viator (Halt, Wanderer)
6. Humum mandere (Beiße ins Gras)
7. Requiem for Icarus
Und bereits im ersten Satz, dessen Titel an Auszüge aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ erinnert, verwendet Auerbach Klänge, wie wir sie auch bereits bei Richard Strauss finden. Wechseltöne und wabernde Klänge prägen diese Musik, die keine gezielte Richtung kennt, deren Klänge aber das Gefühl des Vor-sich-Hinsiechen eines schwerkranken Geistes einfangen.
Der zweite Satz beginnt im Kontrast dazu geradezu thematisch, was ihn umso stärker wirken lässt. Schon die ersten zarten Choraltöne von Flöten, Bass und gestopfter Trompeten kennen hier eine klare Richtung. Auerbach genügen ein paar Takte, um das Ziel vorzugeben, auf das das ganze Orchester zusteuert. Gerade auch die immer mehr in die Höhe ziehenden Streicher und einzelne zarte Glockenschläge drängen immer näher ans Licht heran. Ist das bereits ein Sinnbild für den Aufstieg von Icarus, der später noch Gegenstand der Sinfonie wird?
Im dritten Satz klingen die titelgebenden Gargoyles bei ihr herb, fast schroff. Anfangs vom Solocello getragen, illustriert sie diese Figuren durch groteske Klänge scharfer Bläser, Trommelstöße und das Aufschlagen der Bögen auf die Klangkörper der Streicher. Später stoßen sogar an Chaos grenzende Orchesteraufschreie dazu. Und doch schafft Auerbach es, ihnen zarte, sparsam instrumentierte Abschnitte in ihrer Klangfarbenmischung entgegenzusetzen. Diese in Stein gehauenen geflügelten Monster wanken bei ihr zwischen einer an Mystik grenzenden Schönheit und brachialer Kraft. Unnachgiebig, bedrohlich – wie ein unausweichliches Schicksal.
Aus diesem faszinierenden Klangbild tritt der Tod organisch hervor. Als wäre er auch ein in Stein gehauener Fakt, der durch eine erneut gedämpfte Trompete illustriert wird. Und doch ist der vierte Satz weder verstörend, noch bedrohlich. Sondern die Mischung aus Solovioline, Harfe und Celesta, begleitet durch einen zarten Streicherchor, wirkt fast versöhnlich. Auch ihre Tonabfolge hat etwas Vertrautes – mir kommt es so vor, als wäre das eine (versteckte?) Parallele zu Korsakows Scheherazade, als sie dem Sultan ihre 1001 Geschichten erzählt. Der Tod hier als Begleiter durch den Traum der Idylle, bis die Illusion aufbricht? Dafür spricht, dass der nächste Satz, der ‚Halt’ befiehlt, wieder mit dem schneidenden Klang des Todes einsetzt.
Ein ganz irritierender Moment der Wiederholung setzt im sechsten Satz ein, der fast eins zu eins den vorherigen Einstieg in die Gargoyles abbildet. Sind diese Figuren damit also doch Sinnbild des Todes, wenn sie zum ‚ins Gras beißen’ auffordern? Als Vorbereitung auf das ‚Requiem für Icarus’ (den letzten Satz) kann dies jedenfalls leicht als Enthüllung des eigentlichen Unglücks gedeutet werden: Der Traum des Icarus (siehe Satz 2), mit selbstgebauten Flügeln der Sonne entgegenzufliegen endete laut Legende auch tragisch mit seinem Tod. Die Gargoyles – passenderweise auch noch Mischwesen – könnten so also dem Titel der Sinfonie entsprechend zur Chimäre von Icarus’ Traum als auch zugleich dessen Schicksal werden.
Die pure Dramatik im letzten Satz wird jedenfalls durch Figuren aus den vorherigen Sätzen geprägt. Hier macht der Tod noch einmal den Einstieg – schneidende Bläserklänge, volle Bässe und auch Glockenstöße besiegeln das Ende von Icarus – einer Figur, die sich heldenhaft zu übermenschlichem aufschwang und daran zerbrach. Genial, wie die Musik trotz dieser Tragödie in ein fast verklärendes Finale ausleiten kann. Ein spannendes Werk!
Lera Auerbachs erste Sinfonie ist eine Komposition, die zum Assoziieren einläd. Die Mehrdeutigkeit ihrer Programmgrundlage ist nicht immer leicht verständlich, wird aber durch ihre komplexe Musik klar vergegenwärtigt. Für einen bequemen Hörgenuss würde noch das als roter Faden durch alle Sätze leicht hörbar auftretende Leitthema fehlen. Andererseits braucht es das in einer derart komplexen Ausdrucksform, die vor allem Gefühle und weniger einen klaren Inhalt nachzeichnet, nicht. Die Musik wird auch so erfahr- und nachvollziehbar. Für mich ist diese Sinfonie jedenfalls ein Statement großer Kunst, die häufiger in unsere Konzertsäle gehören würde.
Daniel Janz, 21. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 20: Amy Beach – Sinfonie in e-Moll – „Gaelische Sinfonie“