Daniels vergessene Klassiker Nr 18: Havergal Brian – Sinfonie Nr. 1 – „Gothic Symphony“ (1961)

Daniels vergessene Klassiker Nr 18: Havergal Brian – Sinfonie Nr. 1 – „Gothic Symphony“ (1961)  klassik-begeistert.de, 9. April 2023

Quelle: https://www.last.fm/de/music/Havergal+Brian

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Ostern. Das Fest der Auferstehung Christi hat nicht nur diverse Künstler, Komponisten, Intellektuelle und eine ganze Religion beeinflusst. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass unsere ganze Kultur darauf beruht. Also ein Fest, das an ein gigantisches Ereignis erinnert. Entsprechend gigantische Spuren hat es hinterlassen. Auch oder gerade musikalisch. Reden wir also einmal über Musikgiganten. Da kann es doch eigentlich nur einen geben. Oder? Weit gefehlt, denn heute geht es weder um Bachs Bibelvertonungen, noch um Mahlers gigantische Gotteserfahrungssinfonien. Sondern um einen musikalischen Giganten, der – obwohl er ähnlich beeindruckt – völlig vergessen ist: Havergal Brian und seine „Gotische Sinfonie“.

Es war ein Trauerspiel mit Brians Sinfonien. Als Arbeiterkind fiel es dem 1876 in Dresden (Stadtteil von Stroke-on-Trent, Staffordshire) geborenen Engländer schwer, als Komponist Fuß zu fassen. Erstes Interesse erregte er 1907. Im selben Jahr gewann er die Unterstützung eines reichen Förderers und widmete sich fortan ganz dem Komponieren. 32 Sinfonien schrieb er unter diesen eigentlich guten Verhältnissen. Die erste – zwischen 1919 und 1927 fertiggestellt – sollte an seine Anfangserfolge anknüpfen. Stattdessen folgten Aufführungsstopp und Vergessenheit. Erst in den 1950er Jahren wurde seine achte Sinfonie als erstes sinfonisches Werk uraufgeführt.

Aufführung der Gotischen Sinfonie am 17. Juli 2011 zum BBC Proms: https://theartsdesk.com/classical-music/bbc-proms-havergal-brians-gothic-symphony-bbc-concert-orchestra-bbcnow-brabbins

Und 1961 war es endlich für diese Sinfonie so weit. Von der Uraufführung wird berichtet, sie habe das Publikum in Jubelsturm versetzt. Es gehört zu den Grotesken des 20. und 21. Jahrhunderts, dass sie seitdem trotzdem kaum weitere Aufführungen erlebte. Die englischsprachige Wikipedia-Seite zählt insgesamt 7 weitere auf – weltweit! Wenn das nicht unterrepräsentiert ist, muss die Definition dieses Wortes neu erfunden werden. Ein Umstand, der sogar einen Film um den „Fluch der Gotischen Sinfonie“ inspirierte:

 

Dabei liegt dieser traurige Befund nicht unbedingt an der Qualität der Sinfonie. Denn auch wenn ihr stellenweise der Glanz fehlt, spielt sie kompositorisch in einer hohen Liga. Kein Wunder, schließlich waren Brians Hauptinspirationen u.a. Richard Strauss sowie sein Edward Elgar. Man würde alleine deshalb schon einen Erfolg erwarten. Und auch thematisch greift es Stoff für die Ewigkeit auf: Die Lobpreisung des Schöpfergottes.

Aber die Krux liegt in der Konzeption des Werks. Mit 105 Minuten Spieldauer gibt es nur eine handvoll ähnlich langer Sinfonien – von denen Gustav Mahlers dritte als einzige regelmäßig aufgeführt wird. Mit Mahlers Gigantismus verbindet Havergal Brian auch die Besetzung: Seine „Gotische Sinfonie“ verlangt geschlagene 7 Flöten, 6 Oboen inklusive Bassoboe plus 2 Englischhörner, 11 Klarinetten inklusive Bassetthörnern, Bass- und Kontrabassklarinette, „sparsame“ 5 Fagotte (davon 2 Kontrafagotte), 16 Hörner, 12 Trompeten plus Basstrompete, 13 Posaunen, jeweils 2 Kornette, 2 Euphonien und 10 Tuben, eine ganze Armee aus Schlagzeugern, Orgel, Celesta, Harfen und einen Streicherapparat aus mindestens 80 Spielern – alles gepaart mit 4 großen Chören, Kinderchor und 4 Solisten.

Das ist die Liga der Giga-Giganten, wie Berlioz’ (leider mehr schlecht als recht komponiertes) Requiem oder Mahlers „Sinfonie der Tausend“. Es ist schon Herausforderung genug, für so ein gewaltiges Orchester eine Konzerthalle in entsprechender Größe zu finden. Dazu kommt, dass Brian seinen extremen Blechbläserapparat auch noch aufteilt und neben der Standard-Bläsergruppe im Orchester 4 Fernorchester im Raum positioniert. Kein Wunder also, dass es regelmäßig Anläufe gab (und gibt), das Werk zur Aufführung zu bringen, die allein an der Logistik scheitern.

Dazu kam das Werk wohl 20 Jahre zu spät, um als revolutionär aufgefasst zu werden. Denn im Gegensatz zu den ab den 1920ern hervordrängelnden Avantgardisten rund um Schönberg, Varèse oder Hindemith, verblieb Brian in einer spätromantischen Tonsprache. Obwohl er diese Komponisten sehr schätzte und selber immer wieder die Grenze zur Tonalität streifte, ging er nie darüber hinaus. Seine Musik fügt sich deshalb intuitiver ins Gedächtnis. Ein Vorteil! Der Nachteil: Die Fachwelt tut sie damit automatisch als „altbacken“ ab. Ein Urteil, was auch heutzutage leider viel zu oft traditionell komponierende Menschen in vorurteilsbehaftete Ablehnung stürzt.

Brians erster Sinfonie fehlt auch die Genialität Mahlers. Seine Musik ist teils ungestüm und kreist um sich selbst, wie um eine unbeantwortete Frage. An einigen Stellen – zum Beispiel im stark reaktiven zweiten oder im nicht konsequent durchgeführten vierten Satz – hätte ich mir eine qualitative Revision vorstellen können. Trotzdem würde ich Brians erste Sinfonie jederzeit einem modernen Avantgardismus-Klangexperiment vorziehen.

Im Hinblick auf die Logistik kommt er in dieser Sinfonie den Interpreten auch entgegen. Denn bevor er den gigantischen Chor zum Lobe Gottes einsetzen lässt, bereitet er in drei (gemeinsam um die 40 Minuten langen) Sätzen das Himmelreich vor. Und das mit einer weitestgehend traditionell romantischen Orchesterbesetzung. Wer also die Aufführung als Ganzes scheut, könnte sich immerhin an diesen ersten drei Sätzen versuchen.

Inhaltlich kann man hier bereits eine eigene Dramaturgie feststellen. Der erste Satz als antreibender Einstieg mit einem als roten Faden erkennbaren Hauptthema, der zweite als aktives Aufbäumen bis zum leisen Ausklingen und der pausenlos folgende, als Trauermarsch beginnende dritte Satz, der sich schnell in hoffnungsvoll/verträumte Sehnsuchtsklänge hineinflüchtet – das erinnert an Mahlers Zweite und erzählt doch eine eigene Geschichte. Denn Brians Musik ist nicht erst auf das Jüngste Gericht als Schritt vor der christlich himmlischen Erlösung ausgerichtet. Sie bereitet in diesen drei Sätzen die Erlösung als Thema vor. Wollte man sie mit Mahler vergleichen, wäre sie die Kombination aus Mahlers zweiten und achten Sinfonie.

Church of The Resurrection, Dresden, Staffordshire – Geograph-by-Geoff-Pick

Herzstück ist und bleibt deshalb auch die zweite Hälfte, wo der Chor ins Te Deum einsetzt. Es in Worten beschreiben zu wollen, kann der Sache eigentlich nicht gerecht werden. Denn diese Musik ist dazu da, um erlebt zu werden. Hier kommen nicht nur Kompositionsweise, Inhalt und Bedeutung zusammen. Sondern auch die Erfahrung der sich im Raum verteilenden Klänge ist eine, die man nur selten im Konzert machen kann. In den Aufnahmen, die es dazu gibt, kommen beispielsweise die Fernorchester kategorisch zu schlecht zur Geltung. Auch verebbt die Intensität der aufgeteilten Chöre in den digitalen Möglichkeiten jeder Wiedergabetechnik.

Wer den religiösen Inhalt teilt, der dürfte in diesem Werk obendrein ein ergreifendes Zeugnis christlicher Heilsbotschaft finden. Aber selbst, wer nichts mit dem lateinischen Lobeshymnus auf dem dreifaltigen Gott und den zu Ostern auferstandenen Christus anfangen kann, findet hier noch ein zutiefst beeindruckendes Werk voller Abwechslung und Spannung vor.

Alleine wegen ihres Gigantismus gepaart mit einer doch weitestgehend spätromantischen Klangsprache ragt diese Sinfonie heraus aus dem reichen Fundus der Orchesterliteratur. Und auch, wenn Brian die Plastizität Mahlers fehlt, so hat er hiermit doch ein Werk erschaffen, das häufiger aufgeführt gehört, als nur einmal alle 9 Jahre. Gerade auch hohe christliche Festtage, wie das heutige Ostern, würden sich dafür anbieten. Vielleicht also geben wir Havergal Brians erster Sinfonie einmal eine Chance?

In diesem Sinne: Frohe Ostern!

Daniel Janz, 9. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker

Meine Lieblingsmusik (63): Gustav Mahler „Sinfonie Nr. 3 in d-moll“ (1896)

Daniels Anti-Klassiker 29: Hector Berlioz – Requiem (1837)

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