Anton Rubinstein, br-klassik.de ü/ Bildquelle: picture-alliance/dpa/akg-images
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Der Name Rubinstein besaß um die Wende ins 20. Jahrhundert Gewicht. Weltberühmt war das Klavierspiel des Polen Arthur Rubinstein; besonders seine Chopin-Interpretationen gelten bis heute als bahnbrechend. Nicht zu vergessen ist sein russischer Namensvetter Nikolai Rubinstein, auch Pianist, dazu Dirigent und Pädagoge in Paris. Und dann gab es da noch den dritten im Bunde: Nikolais Bruder Anton Rubinstein.
Dass er heute aber ebenfalls fast vergessen ist, obwohl er im Bezug auf die musikgeschichtliche Entwicklung mindestens in Russland wohl der bedeutendste Rubinstein ist, kann man nur als Ironie der Geschichte verstehen. Auch deshalb sollten wir uns dringend einmal diesem Initiator russischer Klassik, sowie Inspirationsquelle für Tschaikowski und Rachmaninow zuwenden!
Anton Grigorjewitsch Rubinstein (28. November 1829 – 20. November 1894) kann wohl als Urgestein russisch/klassischer Musik betrachtet werden. Dabei wäre dies von dem Sohn einer nach Moskau übergesiedelten jüdischen Arbeiterfamilie zunächst nicht zu erwarten gewesen. Verdanken konnte er seine musikalische Karriere wohl vor allem seiner Mutter, selber begnadete Pianistin und Lehrerin. Auf ihre Förderung geht es scheinbar auch zurück, dass er seine ersten Stücke im Alter von nur 5 Jahren schrieb.
Öffentliche Konzerte folgten im Alter von 11 Jahren, daraufhin auch eine Europatournee, wo sein Bruder Nikolai und er sowohl Franz Liszt kennenlernten, als auch zu Felix Mendelssohn-Bartholdy eine Freundschaft aufbauten.
Auf Reisen wie dieser durch Europa erwarb er nicht nur Wissen, sondern baute sich auch ein – für russische Künstler bis dahin beispielloses – Netzwerk auf. Auch deshalb gelang es ihm, nach dem Tod seines Vaters 1846 und anschließender Odyssee, in Sankt Petersburg Fuß zu fassen. Dort gründete er das erste russische und bis heute weltbekannte Konservatorium. Begleitet wurde dies durch kompositorische Erfolge. Weitere Tourneen durch die ganze Welt folgten. All dies honorierte der Zar schließlich mit einem Adelstitel, was zu jener Zeit ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang war.
Es dürfte also nicht verwundern, dass Anton Rubinstein als einer der wichtigsten Musiker seiner Zeit gehandelt wurde. Verwundern, ja fast irritieren muss stattdessen aber der Umstand, dass er heute im Konzertbetrieb so gut wie keine Rolle spielt. Und das, obwohl er die Grundsteine für ganz Große, wie Tschaikowsky und Rimski-Korsakow legte.
Wenn man sich das kompositorische Schaffen dieses Kosmopoliten anschaut, verwundert das umso mehr. Dabei sind die Gründe für dieses Vergessen vielfältig. Als Jude und anti-Wagnerianer war er starkem Antisemitismus ausgesetzt, der ihn insbesondere in Deutschland an den Rand drängte. Auch wurde sein Stil als „altmodisch“ im Vergleich zu seinen Zeitgenossen diskreditiert. Klischees und Vorurteile, die sich bis heute halten und in unserem Kulturbetrieb munter reproduziert werden.
Dabei zeigt die von ihm geschriebene Musik, dass diese Ignoranz völlig unbegründet ist. Nicht nur hinterließ er 6 Sinfonien, mehrere Solokonzerte, dutzende Kammer- und Klaviermusiken und eine ganze Reihe an Opern und Vokalwerken. Auch galten seine Interpretationen am Klavier als „Offenbarungen“ ihrer Zeit. So verzeichnete er sogar mit so genannten „Mammutkonzerten“ außergewöhnlichen Erfolg am Klavier, obwohl keine dieser Aufführungen kürzer als vier Stunden gedauert haben kann. Einmal brach er dabei sogar ohnmächtig über seinem Flügel zusammen.
Um sich einen Eindruck von seinen Fähigkeiten zu machen, braucht es aber keine stundenlange Werk-Exegese. Es reicht bereits das Anhören eines kleinen, gerade mal 20 Minuten langen Stückes, das er „La Russie, morceaux symphonique“ nannte. Eine Musik so voller Farben, Abwechslung und musikalischer Zitate, dass sie eigentlich das Potenzial zum Konzertklassiker schlechthin hätte… Melodien, wie „Oh Tannenbaum“, die Hymne „Gott schütze den Zar“ oder das (für uns beim ersten Hören gar nicht nachvollziehbare) „Tataren Liebeslied“ aus „Islamey“ von Mily Alexeyevich Balakirev mit inbegriffen.
Anstatt aber unsere Konzertsäle wie manch ein anderer klassischer Schlager zu füllen, gehört dieses Werk zu den verschütteten Juwelen. Wenn es erklingt, dann mehr zufällig als geplant. Dabei hat es so viel zu bieten. Nach einer klassischen Eingangsfanfare steigt Rubinsteins „La Russie“ in eine feierlich muntere Tanzmusik mit Ohrwurmcharakter ein, die durch schillernde Elemente inklusive Triangel und Tambourin aber auch prächtige Bläserpassagen unterbrochen wird. Hier erklingt auch das Thema, das den roten Faden der Komposition ausmacht und in einer fabelhaften Satztechnik deren Gerüst bildet. Gewürzt wird es auch noch mit einem besonderen Gespür für Akzente, die den Zauber dieses Werks unterstreichen und es wie im Flug vergehen lassen.
Der Eindruck, es hier mit einem auskomponierten russischen Volksfest zu tun zu haben, kann dabei wegen der schlechten Quellenlage leider nur eine Vermutung darstellen. Rubinsteins Musik bleibt auch nicht im Feiertreiben hängen, sondern kennt darüber hinaus Stimmungsschwankungen, die das ganze noch zusätzlich elektrisieren. So folgen einem zunächst dramatisch balladenhaft klingendem Abschnitt unvermittelt gleich mehrere, vermutlich von anderen Komponisten entlehnte Stellen voller Kontraste und Spielerei.
Anhand der wechselnden Instrumentation und Melodieführung lassen sich hier mindestens 9 verschiedene Elemente identifizieren – die zuvor genannten Zitate mitinbegriffen. Ob und was Rubinstein damit verband, lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres beantworten. An diesem Punkt kann man nur anhand des Titels (morceaux symphonique = Französisch für „symphonische Stückchen“ oder „Häppchen“) raten, dass es sich vielleicht um damals gängige Schlüsselwerke russischer Volksmusik handelt. Dieses „Best of“ leitet er auch schließlich wieder in das brillante Hauptthema zurück, das die Komposition in ein hymnisches Finale führt und den Wunsch zurücklässt, noch viel mehr über dieses Werk zu erfahren.
Bezeichnend für unser Unwissen über Rubinsteins Musik ist, dass keine Aussagen geschweige denn Quellen über dieses Werk irgendwo zu finden sind. Weder wissenschaftliche Texte, noch musikalische Manuskripte und auch keine Zeugenaussagen scheinen dazu aufbereitet zu sein. Es braucht erst die YouTube-Community, um immerhin einige der von Rubinstein verarbeiteten Zitate zu identifizieren. Das ist eine derart klaffende Lücke der Musikforschung, dass man hier eigentlich vom Versagen eines ganzen Fachs sprechen muss: Als hätte es diese Komposition nie gegeben.
Vielleicht würde eine Reise ins Sankt Petersburger Konservatorium Licht in dieses Mysterium bringen. Unter den aktuellen Umständen erscheint das aber höchstens als Wunschdenken.
Dabei wäre gerade die Musik von Anton Rubinstein im Kontext aktueller weltpolitischer Spannungen ein Juwel der Völkerverständigung: Ein in Russland lebender Jude, der das Handwerk europäischer Kompositionskunst perfektionierte. Wenn das nicht ein Zeichen von Kulturverständigung ist, dann kann man sich auch gleich fragen, warum wir überhaupt noch Kultur fördern sollten. Und dazu präsentiert sich seine Musik auch noch so raffiniert, kontrastreich und ausdrucksstark, dass sie auf jeden Fall in unsere Konzertsäle gehört! Es braucht nur jemanden, der sie auch spielt.
Daniel Janz, 27. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!
Sommereggers Klassikwelt 61: Der (fast) vergessene Anton Rubinstein
Lieber Herr Professor!
Ihr letzter Absatz gehörte fett gedruckt.
Lothar Schweitzer