https://music.apple.com/de/artist/aaron-copland/319663
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Das Konzertrepertoire mindestens in Deutschland ist höchstselektiv. Beim Blick auf die Spielpläne gähnen einen immer wieder dieselben Klassiker an und zeigen, dass der Blick über den Tellerrand oft mehr frommer Wunsch als Realität ist. Dabei müsste man nur einmal in andere Länder schauen, um Einiges zu lernen. So kommt es, dass in Deutschlands Konzertsälen beispielsweise ein Werk nahezu vergeblich gesucht wird, das in den USA fast Kult-Charakter hat: Das „Appalachian Spring“ von Aaron Copland.
Zugegeben, dieses Werk, das Copland da im Jahre 1944 komponierte, ist stark in der amerikanischen Siedlergeschichte verankert. Im Gegensatz zu den atonalen Klangexperimenten, die zu derselben Zeit auf der Flucht vor nationalsozialistischer und sowjetischer Zensur und Verfolgung in die USA überschwappten, bedient Copland sich hier einer traditionellen, fast schon altbackenen Klangsprache. Das passt aber auch perfekt zu dem, was er hier ausdrücken wollte: Eine Hochzeit inklusive friedfertigem Aufbau eines Farmhauses in Pennsylvania für ein frisch vermähltes Paar. Dafür braucht es keine modernen Tonwürfeleien oder verkopfte Fortschrittsideologie.
Es ist also kein Wunder, dass dieses Werk jenseits des Atlantiks eine große Beliebtheit genießt. Wie bei uns Mozart, Beethoven, Bruckner und Mahler unangefochten sind, so dürfte es Copland in den USA sein. Dort genießt sein Werk ein so hohes Ansehen, dass Copland selbst den bekanntesten siebten Satz hieraus sogar mehrfach für andere Ensembles umgeschrieben hat.
Nicht umsonst gewann dieses ursprünglich als Ballett und später für Orchester umarrangierte Stück 1945 den Pulitzer-Preis für Musik. Inzwischen fand es auch schon zahlreich Verwendung in Film und Fernsehen. Aber in deutschen Konzertsälen? Fehlanzeige!
Dabei ist jene Szene an der Bachquelle in den Appalachian Mountains – daher auch der Name – ein idyllisches Klanggemälde erster Güte. Von den insgesamt 14 Sätzen des Balletts schafften es 8 in die Orchestersuite, die heutzutage die bekannteste Fassung ist. In einer fabelhaft malerischen A-Dur-Einleitung gelingt Copland dabei ein über drei Minuten langer Einstieg voller Friede und Sinnlichkeit, der tonangebend für die ganze Komposition ist. Das sehr langsame Tempo soll den idyllischen Eindruck noch unterstreichen und jeder Hauptfigur – Braut, Verlobtem, Hochzeitszeugen und Erweckungsprediger – genug Platz zugestehen.
Mit dem ersten tänzerischen Ausbruch der Streicher beginnt dann auch die Handlung. Nacheinander gesellen sich ihnen neue Instrumente zu und untermalen das Treiben schließlich in einer choralartigen Bläserbegleitung, die den religiösen Charakter der Szene herausstellen soll. Immer wieder kehrt die Musik zum Ausdruck der Idylle zurück. Besonders die Soli der Flöte sorgen dafür, dass die stechenden Einwürfe der Trompeten und auch die immer wieder aufbrausenden Paukenschläge nicht zu sehr die Handlung bestimmen. So gelingt auch ein fast natürlicher Einstieg in die dritte Szene; die Braut und ihr Verlobter geben sich ganz der Leidenschaft hin und geben als Duo ihr Eheversprechen ab.
In diese Liebesszene gesellt sich der Erweckungsprediger hinzu, der zu seinen Anhängern spricht. Musikalisch steht diese Szene in einem starken Kontrast zu dem, was man sich normal unter einer Predigt vorstellt. Hier wird nicht trocken die Bibel zitiert, hier steppt der Pfarrer! Denn für einen Gottesdienst ist das sehr tänzerisch: Besonders Assoziationen zu Square-Dance und Country-Fiddler halten hier Einzug. Ist das schon der Hochzeitstanz nach gegebener Zeremonie? Da sprießt jedenfalls richtig Leben heraus – kein Wunder, dass die Musik danach auch wieder zum Ursprungsgedanken zurückkehren und die Idylle erneut aufgreifen kann.
Es folgt ein Solotanz der Braut, in dem sie sich laut Programm darauf vorbereitet, in die Ehe zu gehen und dort Mutter zu werden. „Gegensätze von Freude, Furcht und Staunen“ sollen hier zum Ausdruck kommen. Musikalisch überwiegt aber vor allem ein Moment der Aufregung, fast schon Hektik, so sehr, wie die Streicher und Flöten zu den sie anfeuernden Trompeten lostraben. Erst als die erste Violine im Solo zu Harfen und Streicherchor auftaucht, stellt sich so etwas wie Ruhe ein. Es wirkt fast selbsterklärend, dass daraufhin eine Wiederholung der Eingangsszene folgt und ein weiteres Mal das Gefühl der friedlichen Idylle aufgreift.
Die siebte Szene ist jene, die mit Abstand am bekanntesten ist. Braut und Ehemann schildern in insgesamt 5 Variationen eines Shakerthemas ihren Alltag nach der Hochzeit. Zur Melodie von Edward D. Andrews’ „’Tis a Gift to be Simple“ kann man sich bildlich vorstellen, wie sie zusammen mit der Hochzeitsgesellschaft jenes Farmhaus bauen, das ihre zukünftige Heimat werden soll. Dieses Haus ist es dann auch, was sie in der Coda – herrlich illustriert durch einen Streicherreigen und Holzbläsermelodien – beziehen, um dort ihre Familie zu gründen. Es folgen noch einmal die Themen der Einführung; dem Familienglück scheint nichts mehr im Weg zu stehen.
Beim Anhören erklärt sich eigentlich von selbst, wie Copland mit dieser Musik in den USA so bekannt werden konnte. Warum sein faszinierend malerisches Stück bis heute aber in Deutschland vergeblich auf den Spielplänen großer Orchester zu suchen ist, erklärt sich nicht. Weder historisch, noch musikalisch gibt es Gründe für so ein Schattendasein.
Viel eher würden sich Werke wie Coplands „Appalachian Spring“ eignen, unseren auf seinen Klassikern eingeschlafenen Konzertbetrieb zu bereichern. Nicht nur beflügeln sie die Vorstellungskraft. Auch sind sie Garanten für eine fast schon intuitiv ergreifende Handlung. Und wenn das Programm dazu auch noch bekannt ist: Was gibt es dann noch zu verlieren? Eigentlich ist das ein Garant für einen Publikumshit – auch bei uns!
Daniel Janz, 4. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Grandioses Stück! Es versetzt einen direkt in die wunderschönen Appalachen, lässt einen nur durch den Klang die Gegend dort fühlen, beinahe als ob man dort wäre wenn man die Augen schließt!
Danke an den Autor für den hervorragenden Artikel!
Mit freundlichen Grüßen
Peter Turbo
Schön, wenn auf Coplands bekanntestes Werk hingewiesen wird, das hierzulande tatsächlich öfter gespielt werden könnte, wie Coplands Musik allgemein. Ein paar Anmerkungen zu diesem Artikel sind aber doch nötig.
Ich zitiere:
„Im Gegensatz zu den atonalen Klangexperimenten, die zu derselben Zeit auf der Flucht vor nationalsozialistischer und sowjetischer Zensur und Verfolgung in die USA überschwappten, bedient Copland sich hier einer traditionellen, fast schon altbackenen Klangsprache.“ – Hier wird der Eindruck erweckt, die musikalische Moderne sei aus Europa in die USA exportiert worden. Das ist mitnichten der Fall: Komponisten wie Charles Ives, Harry Partch und der lose Kreis der „Ultramodernen“ entwickelten eine ganz eigene amerikanische Tradition der Avantgarde parallel zu und teils sogar vor den europäischen Kollegen. Insbesondere Ives, aber auch bspw. Henry Cowell schöpfen dabei explizit aus amerikanischen und von den Einwanderern mitgebrachten Volksmusiken. Was soll dieser dubiose Ausdruck „überschwappen“?
„Dafür braucht es keine modernen Tonwürfeleien oder verkopfte Fortschrittsideologie.“ – Ein völlig unnötiger, vor fehlinformierten Vorurteilen strotzender Satz. Warum glaubt der Autor, er müsse andere Verunglimpfen, um Copland zu loben? Es sei darauf hingewiesen, dass Copland erstens seinerzeit ebenfalls ziemlich modern war: Er entwickelte eine Klangsprache und einen Sound, der sich deutlich von der bisherigen Schreibweise abhob, die allzu stark von europäischen Vorbildern abhängig war, und integrierte (ähnlich wie Ives) spezifisch amerikanische Stilistiken in seine Kompositionstechnik. Damit prägt er den „typisch amerikanischen Sound“ bis heute. Absolut nichts an Coplands Musik ist „altbacken“! Zum anderen: Copland schrieb selbst (sehr gute) avantgardistische Musik und zwar sowohl am Anfang seiner Karriere als auch gegen Ende wieder; er hatte viele Freunde unter den Avantgardisten und war allgemein sehr gut vernetzt und sehr interessiert. Die Phase der Vereinfachung wurde vor allem durch die Wirtschaftskrise und die Great Depression angeregt und steht als Konzept zumindest partiell fest in der Tradition der Moderne: Gebrauchsmusik, Abkehr vom (Gefühls- & Klang-) Bombast der Spätromantik, politisch relevante Musik „für die Massen“. Einfachheit und Konsonanz sind übrigens nicht automatisch das Gegenteil von Avantgarde. Dieses unsinnige Gegeneinander-Ausspielen von Moderne und Tradition geht vollständig an der musikhistorischen Realität vorbei.
Aiko Herrmann
Werter Akio,
ich scheine in Ihnen ja einen Fan gefunden zu haben. Hatten Sie nicht meinen Beitrag über Penderecki so sehr kritisiert?
https://klassik-begeistert.de/daniels-vergessene-klassiker-nr-17-krzysztof-penderecki-threnody-1961-klasyki-begeistert-de-26-maerz-2023/
Auf Ihre Einwände möchte ich aber gerne eingehen.
Zunächst: In Ihrer Kritik von meinem ersten Satz liegt durchaus Wahres. Sie haben Recht, mit Ives, Partch und einigen anderen hatten natürlich auch die USA bereits ihre eigene, unabhängige Tradition der Avantgarde.
Mein Satz war jedoch auch in einem anderen Kontext gemeint: Es ist ja nicht so, dass alle Künstler, die vor den Nazis und dem Stalinismus geflüchtet sind, in den USA geblieben sind, auch wenn einige dort wirksamer wurden als in ihrer Heimat. Man stelle sich mal vor – Gott bewahre – die Nazis wären siegreich gewesen oder hätten Europa unter Kontrolle gehalten. Weder ein Schönberg, noch ein Hindemith wären zurück nach Europa gekommen, geschweige denn hätten ihre Musik aufführen lassen dürfen (wobei ich beide Namen jetzt synonym für 2 unterschiedliche Richtungen der Kompositionsstile wähle). Ich bin ein Stück weit überzeugt, dass sich die musikalische Avantgarde aus Europa nur deshalb hat retten können, weil ihnen dieser Fluchtweg in die USA offen stand. Insofern hat dieses „überschwappen“ in die USA also in meinen Augen vor allem dafür gesorgt, dass die europäische Avantgarde überlebt hat. Das war damit gemeint.
Der zweite Satz wendet sich gegen die Praxis, in Kompositionen Form über Ausdruck zu stellen bzw. einer Technik-Ideologie zu erliegen. Das hat nichts mit einzelnen Personen oder einem speziellen Kompositionsstil zu tun, insofern kann ich Ihre Kritik, ich würde hier Moderne und Tradition gegeneinander ausspielen, nicht nachvollziehen. Wie Sie ja selber schreiben, war auch Copland sehr modern – einige seiner Stücke sind in diesem Satz durchaus mitinbegriffen, während andere – wie eben sein „Appalachian Spring“ – wirklich bewegen können.
Der Fokus, den ich hier lege, ist auf dem Ausdruck der Musik. Natürlich gibt es Komponisten, die beides tun: eine moderne Klangsprache wählen und gleichzeitig damit etwas ausdrücken. Mir läge es fern zu behaupten, dass moderne Stilmittel automatisch schlecht wären. Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ ist mit eines der erschreckendsten und ergreifendsten Anti-Kriegs-Werke, die ich kenne, obwohl ich weit davon entfernt wäre, Schönberg zu mögen. Gleiches gilt für Hindemiths Sinfonie von der Harmonie der Welt. Oder auch Pendereckis Threnody, über das wir uns ja schon so leidentschaftlich gestritten hatten. Das sind einfach Werke, die sind wirksam, selbst wenn einem die Kompositionsstile nicht liegen mögen.
Dasselbe gilt übrigens auch für Musik aus dem Kontext von Horrorfilmen oder -Computerspielen. Die Musik zu Ridley Scotts „Alien“ dürfte ebenfalls gut in die Richtung „Avantgarde“ passen, ist jedoch durch den Kontext als Filmmusik extrem ausdrucksstark und ergreifend. Ob sie das ohne die Assoziationen zum Film auch wäre, wäre mal eine spannende Untersuchungsfrage…
Den Unterschied zu einem Experiment mache ich also darin aus, dass diese Musiken auch einen gezielten Ausdruck verfolgen und keine Willkür darstellen. Sei es durch einen Titel, sei es durch eine Vorstellung, die im Hintergrund steht: Die Assoziationen, auf die dadurch abgezielt wird, machen es wirksam.
Diese Kritik wende ich übrigens nicht nur auf die Avantgarde an. Beethovens op. 133 „Große Fuge“ beispielsweise ist für mich ein ebenfalls völlig verkopftes Werk, in dem ich keinen Ausdruck entdecken kann. Und auch Haydn ist mir über die Jahre doch immer wieder suspekt, obwohl ich ihn als Komponisten sehr schätze. Überhaupt geht es mir in vielen Werken so, die trocken nur auf thematische Arbeit abzielen… Fugen, Variationszyklen, Solokonzerte, Sinfonien… das kann alles großartig sein, wenn es Mittel zum Ausdruck ist. Aber zum Selbstzweck finde ich das oft unerfüllend, trocken und im schlimmsten Fall sogar langweilig. Da halte ich es dann eher mit Strauss, der zu seinem „Don Quixote“ verlauten ließ, dass die Form eines Variationszyklus’ eigentlich tote Musik ist und es deshalb absurd wäre, überhaupt noch eine Orchestervariation zu komponieren – was er dann wieder als Grundlage dafür genommen hat, eine musikalische Tragikomödie zu komponieren.
Da bin ich ganz bei Strauss: Auch für mich ist Musik mehr, als nur Geräusche aneinanderzureihen. Und das soll dieser Satz ausdrücken.
Daniel Janz