Daniels vergessene Klassiker Nr. 30: "Johanna Müller-Hermanns heroische Ouvertüre beweist: Heldentum ist nicht nur ein männliches Phänomen"

Daniels vergessene Klassiker Nr. 30: Johanna Müller-Hermanns heroische Ouvertüre beweist: Heldentum ist nicht nur ein männliches Phänomen  klassik-begeistert.de, 7. Januar 2024

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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Heroismus und Heldentum wurden und werden durch die Kulturen der Welt und über die Jahrhunderte hinweg fast ausschließlich als männliche Phänomene deklariert. Bis heute prägen uns Vorstellungen des heroischen Kämpfers, des durchgeistigten Anführers oder des aus Selbstwirksamkeit heraus schaffenden Gerechten. Lange Zeit gab es für Frauen in dieser Ideologie keinen Platz und wenn es doch einmal weibliche Heldengestalten gab, mussten sie sich zu oft an religiösen Tugenden, wie der Reinheit und Jungfräulichkeit messen lassen. Lange Zeit blieb uns dadurch der weibliche Blick auf so ein patriarchalisch geprägtes Bild verschlossen. Und doch gibt es weiblich geprägte Zeugnisse und Perspektiven auf das Heldentum.

Kommen wir damit zu Johanna Müller-Hermann. Den Namen der 1868 in Österreich geborenen Komponistin dürfte heute wohl keiner mehr kennen. Obwohl sie bereits in frühesten Kindheitsjahren ihr musikalisches Talent entfaltete, blieben ihr der große Durchbruch und Bekanntheit lange Zeit verwährt. Ihrem Brotverdienst ging sie stattdessen zunächst als Volksschullehrerin nach – sicher auch in der Absicht, sich später als Hausfrau ganz der Familie aufzuopfern.

Ihre Heirat 1893 hatte aber insofern auch positive Auswirkungen, als dass sie ihre musikalischen Studien wiederaufnehmen und fortsetzen konnte. So konnte sie u.a. sogar Alexander Zemlinsky, Franz Schmidt und Anton Bruckner als Lehrer gewinnen. All dies führte dazu, dass sie schließlich ab 1918 selbst Professorin für Musiktheorie am Neuen Wiener Konservatorium wurde.

Trotz dieses beeindruckenden Werdegangs und einflussreichen Fürsprechern, wie auch Wilhelm Furtwängler, ist Johanna Müller-Hermann heute – wenn überhaupt –nur zu besonderen Anlässen zu hören. So existieren Aufnahmen ihrer Werke ausschließlich in Sondereditionen. Im Konzertbetrieb sind ihre Werke sogar ganz vergessen. Ein beschämendes Fazit. Denn gerade auch Werke, wie ihre Sinfonische Fantasie und ihre Kammermusiken bestechen durch einen ganz eigenen Charme und einfallsreiche Instrumentation.

Wie der Blog „Der Leiermann“ aufklärt, existiert von ihr auch eine Symphonie für Orchester und Chor. Leider aber sind Aufnahmen oder eine Aufführung von diesem Werk unauffindbar. Immerhin existieren wenigstens Aufnahmen zu ihrer vermutlich zwischen 1914 und 1916 im Eindruck des ersten Weltkrieges entstandenen Heroischen Ouvertüre op. 21, die damit ein ideales Einstiegswerk in ihr Schaffen darstellt.

Dieses nur 12 Minuten lange Stück bietet alles, was eine gute Ouvertüre auszeichnet: Klare Melodik, reiche Harmonien, volle Instrumentation, gekonnter Einsatz von Effekten und mit dem Heroismus auch noch ein massentaugliches Thema. Dass man anstelle des ewig einschläfernden Mozarts nicht einmal dieses Werk mit einer Aufführung von z.B. Straussens Heldenleben, Mahlers Sinfonien oder konzertanten Aufführungen von Wagner paart, ist eigentlich absurd. Auch Kombinationen, wie mit Weli Muhadow, Augusta Holmès oder Prokofjew sind denkbar.

Die große Frage ist natürlich, wie diese Musik überhaupt das Heroische erfasst. Denn gerade historische Definitionen, die Heroismus und Heldentum meist auf den Erwerb „wahrer Männlichkeit“ zurückführen, dürften hier zu kurz greifen. Hilfreicher scheint die Suche nach dem Ausdruck von Eigenschaften, wie Mut, Tapferkeit und Eifer, die gemeinhin mit Heldentum in Verbindung gebracht werden. Hier wird man bei Johanna Müller-Hermanns Ouvertüre fündig!

Die Geschwister Hermann: Albert, Tona und Johanna, 1888, © Erich Hermann

Dabei startet sie über einen f-Moll-Akkord, der zunächst wenig Heroisches bietet, sondern durch die starken Bässe einen dramatischen Eindruck weckt. Und doch ist dieser Akkord nicht weit weg vom Heroischen; wie uns die Musiktheorie lehrt, handelt es sich bei f-Moll um die Subdominant-Parallele zu Es-Dur, der Tonart, die traditionell gesehen häufig für das Heroische, Erhabene und Göttliche eingesetzt wird. Tatsächlich bewegt sich Müller-Hermanns Ouvertüre um das harmonische Feld von Es-Dur herum. Zwar beginnt und endet sie nicht in dieser Tonart (der Schlussakkord liegt in F-Dur), aber trotzdem streift sie diesen Bereich immer wieder und bleibt so aus harmonischer Perspektive beim Heldentum kleben.

Aber es braucht kein Musiktheoriestudium, um etwas heldenhaft Aufstrebendes in der Musik zu erkennen. Nicht nur der dramatische Einstieg und das darauf wie ein prächtiger Gegensatz folgende Bläserthema stimmen darauf ein. In der Folge erlebt die Musik auch ein lebendiges Treiben hin zu Größerem: Es schwingt sich immer weiter auf. Beeindruckend ist hier nicht nur das verwobene Spiel der Stimmen miteinander. Dazu kommen die Effekte durch Schlagzeug und Harfe, die Johanna Müller-Hermann nutzt, um noch das letzte bisschen Raffinesse aus der Musik herauszukitzeln.

Und natürlich gehört zu jedem Helden auch ein Gegenspieler. Ob Johanna Müller-Hermann hier einem festen Programm gefolgt ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt zwar unbekannt. Die immer wieder dröhnend hereinbrechende Tuba lässt aber annehmen, dass es hier Kräfte gibt, die das heldenhafte Aufstreben verhindern wollen. Erst durch das pulsierende Wiederholen des Hauptthemas in der Trompete lassen sich diese besänftigen.

Auffällig ist dabei der starke Fokus auf die Blechbläser – besonders, wenn sich das Hauptthema wiederholt. Entweder erklingt es alleine in der Trompete oder mehrstimmig im Bläsersatz, jedoch stets in edler, fast schon abgeklärter Weise. Als hätten wir hier eine Heldenfigur, die über allem steht. Wie ein Motor treibt dieses Thema die Musik an; mal leitet es in eine von Friedfertigkeit geprägte Passage, mal in Ausbrüche mit Trommel, Becken und vollem Orchester. Das erlaubt auch sensible Momente, in denen das Orchester wie in einen strahlenden Sonnenaufgang hineinführt oder das Tamburin in leicht orientalischem Hauch Erotik versprüht. Und das Ende, das mit Tamtam und Schlagzeug noch einmal richtig Fahrt aufnimmt, ergießt sich in eine richtige Klangexplosion. Ein ganz großer Moment!

 

Warum diese wunderbare Komposition nie gespielt wird, ist völlig unverständlich. Nicht nur ist es geniale Musik, die uns hier so schmählich vorenthalten bleibt. Auch eröffnet diese Perspektive einer Frau auf das Thema Heldentum Klangwelten, die so viel zu selten Gehör erhalten. Um jedenfalls einmal dieses zu männlich geprägte Thema zu erweitern, wäre es durchaus reizvoll, solche Beispiele häufiger zu betrachten.

Johanna Müller-Hermann gehört jedenfalls unangefochten genauso auf die Konzert-Veranstaltungspläne, wie die so genannten „großen Helden“. Sollte ich sie einmal dort entdecken, werde ich mir das jedenfalls nicht entgehen lasen!

Daniel Janz, 7. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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