Daniil Trifonov © Dario Acosta
Ja, ist denn heute schon Weihnachten? Nein, sogar der erste Advent ist schon vorbei. Dennoch liefert Daniil Trifonov im Wiener Konzerthaus einen Klavierabend, der eine Überraschung nach der anderen platzen lässt. Mit vielen Synonymen hat die Presse den „seltenen Geist des Genialischen“, den „pianistischen Hexenmeister“ aus Russland umschrieben. „Molekularkoch“, „schwarzer Magier“ und neuerdings gar „Medium einer besseren Welt“ gesellen sich hinzu. Was die meisten dabei vergessen haben: Erneuerer und Tastenstreichler, der viel Unerwartetes aus den Fingern zaubert.
Daniil Trifonov, Klavierabend
PROGRAMM
Jean-Philippe Rameau
Suite a-moll (Nouvelles suites de pièces de clavecin) (1728 ca.)
Wolfgang Amadeus Mozart
Sonate F-Dur K 300k (1781–1783)
Felix Mendelssohn Bartholdy
Variations sérieuses op. 54 (1841)
***
Ludwig van Beethoven
Sonate B-Dur op. 106 »Hammerklaviersonate« (1817–1818)
—————————————–
Zugabe:
Art Tatum, Johnny Green
I cover the waterfront (Notation: Daniil Trifonov)
Alexander Skrjabin
3. Satz: Andante (Sonate Nr. 3 fis-moll op. 23) (1897)
Federico Mompou
Variation IX. Valse und Variation XII. Galope e epílogo (Variationen über ein Thema von Chopin) (1938–1957)
Wiener Konzerthaus, 4. Dezember 2023
von Jürgen Pathy
„Was treibt der da?“, ist der dominierende Gedanke vor der Pause, während der die Gespräche ganz klar von einem Thema dominiert sind. „Dieser Mozart war schon sehr eigenartig“, bemerkt ein junger Herr in Jeans, um die 30. Eine Dame, jenseits der 60, nobel, dick aufgetragener Eyeliner und viel Lippenstift zieren ihr Gesicht, ergänzt am Nebenplatz. „Den Mozart hat er zu schnell gespielt – aber: sehr gut!“. Klingt beinahe so, als müsse man schon relativieren. Immerhin ist Trifonov in seinen jungen Jahren, 32 ist er erst, schon so hochstilisiert, als wäre er der nächste Tastengott, der am Thron von Vladimir Horowitz kratzt.
Das Programm hätte der auch spielen können. Mozarts F-Dur Sonate
K 300k, die mit dem lieblichen Adagio; dazu Mendelssohns Variations sérieuses op 54, das dritte Werk an diesem Abend, bei dem man sich zum ersten Mal denkt: Ja, jetzt passen Stilistik des Klavierspiels und traditionelle Werksvorstellung endlich unter einen Hut. Zuvor hatte Trifonov einen ziemlich vor den Kopf gestoßen mit Mozart und Jean-Philippe Rameaus Suite in a-Moll (Pièces de clavecin) – kennt man kaum, auch, wenn zwei Damen meinen: „Irgendwie spielen jetzt alle Rameau“.
Zwei Einspielungen spuckt einem der YouTube-Algorithmus aus: Grigory Sokolovs und Alexandre Tharauds. Setzt man sich mit diesen Hörgewohnheiten in ein Trifonov-Konzert, kann das viele verstörende Fragezeichen aufwerfen: Dieser Mann stößt komplett andere Türen auf.
Trifonov, ein Pianist mit vielen Überraschungen
Mit sanften Streicheleinheiten verwandelt Trifonov diese barocken Juwelen in einen flüchtigen Liebesroman, der auch im 19. Jahrhundert angesiedelt sein könnte. Anfangs kaum wahrnehmbar. „Dieses Piano, dieses Pianissimo“, staunen einige während der Pause – es ist über weite Strecken kaum zu fassen. Das Dämonische, mit dem ich Trifonov irgendwie assoziiert habe, das entspricht so gar nicht dem ersten Eindruck. Ganz im Gegenteil: Ein feinfühliger Tastenstreichler sitzt am schwarzen Bösendorfer-Flügel, die schulterlangen Haare zerzaust, der Bartwuchs wild.
Sein Rameau: Impressionistisch, flüchtige Momentaufnahmen, die jederzeit irgendwo überraschend abbiegen können. Sein Mendelssohn: romantisch, aber mit einigen Überraschungen gespickt. Warum er das Ende der Variations sérieuses mit einem ritardando hat ausklingen lassen, möchte eine junge Pianistin aus Asien von Trifonov wissen. Nach dem Konzert im Backstage-Bereich, wo Trifonov allen Rede und Antwort steht, geduldig Autogramme schreibt und dutzende Male etwas verkrampft in Handykameras lächelt. Eigentlich sei es ja nur mit einem diminuendo notiert. Weil es der große Saal, mit seiner Resonanz, nun mal erfordere. „Maybe in a smaller hall with a little bit dryer acoustic, it can be a little bit more straightforward“.
Das Gesamttempo hingegen scheint zügig. Genauso wie Trifonov die Bühne verlässt, nachdem die erste Hälfte des Abends an einem fast wie im Flug vorbeigezogen ist. Das Ritual wiederholt sich Mal: Einmal nach vorne verbeugen, gefolgt von einer 270-Grad-Drehung um die eigene Achse nach links. Um auch dem Publikum zu danken, das auf der Bühne des ausverkauften Konzerts auf Stühlen Platz gefunden hat. Gleichzeitig, noch während der Umdrehung, schleudert er seine Haare mit einem Schwung nach hinten. Ökonomisch, minimalistisch – Abgang und tschüss. Dieselbe Geste nach jeder Zugabe, von denen er einige aus dem Ärmel schüttelt. Skrjabin, Mompou und irgendetwas von Art Tatum in einer eigenen Bearbeitung, wie man im Anschluss erfährt.
In den Tiefen der Hammerklaviersonate versunken
Was Trifonov musikalisch wirklich zu bieten hat, lüftet der schüchtern wirkende Russe erst nach der Pause. Beethovens „Meilenstein“, die Klaviersonate Nr. 29, bekannt als „Hammerklaviersonate“. Für lange Zeit galt sie als unspielbar. 1818 hat sie der annähernd völlig taube Beethoven zu Blatt gebracht. Erst 1836 hat sie Franz Liszt vor Publikum enthüllt. Was Trifonov aus diesem viersätzigen Spätwerk herausholt, entbehrt eigentlich jeglichem Wortschatz und ist auf wenige Worte heruntergebrochen einfach nur: monumental, überirdisch, nicht von dieser Welt!
Beethoven und die russische Schule des Klavierspiels, das ist immer ein riskantes Unterfangen. Eines bestätigt Trifonov auch: Klassisch ist da gar nichts. Wenn Beethoven und Chopin in Wien auf ein ausgedehntes Intermezzo treffen, um Katharsis zu feiern, ist dies allerdings dem 1991 in Nischni Nowgorod geborenem Tastenzauberer zu verdanken. Donnernde Akkorde im ersten Satz, einem Allegro. Endlich packt Trifonov ordentlich zu.
Der Klang ist dennoch immer sanft, weich, beinahe unschuldig. Die Atmosphäre hat sich aber gewandelt. Vom belanglosen „Dur-Gedudel“, wie manch ein Kostverächter vom großen Mozart abfällig spricht, hin zu einer fis-Moll-Unendlichkeit, die Trifonov mit seinem tiefgreifenden Gespür für Spannung und Intensität über diesem Adagio sostenuto ausbreitet. 20 Minuten, die alles bedeuten. Traum oder Realität, Diesseits oder Jenseits – es ist nicht mehr zu kategorisieren. Davon lebt der späte Beethoven, seine letzten Streichquartette, seine letzten drei Klaviersonaten – und natürlich auch die „Hammerklaviersonate“. Mit Beethoven in love war ich schon zuvor. Mit Trifonov nun auch.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at