Einsiedeln zelebriert 100 Jahre Welttheater

Pedro Calderón de la Barca (1655), Das grosse Welttheater (El gran teatro del mundo)  Kathedralkirche Einsiedeln, 20. Juli 2024

Einsiedeln, Welttheater © Dr. Charles Ritterband

Die ganze Welt ist eine Bühne – und der größte sakrale Platz der Schweiz, auf den Stufen, die zum Portal der Benediktinerabtei- und Kathedralkirche Einsiedeln führen, dem neben der Kathedrale von St. Gallen größten und prachtvollsten hochbarocken Sakralbau nördlich der Alpen, wird diesen Sommer zum Schauplatz eines einzigartigen Theaterereignisses: Dem „grossen Welttheater“ (El gran teatro del mundo) des großen spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca y Barreda González de Henao Ruiz de Blasco y Riano (1600 – 1681).

Das grosse Welttheater (El gran teatro del mundo)
von Pedro Calderón de la Barca (1655)
in einer Neuschöpfung von Lukas Bärfuss

Autor der zeitgenössischen Fassung: Lukas Bärfuss

Regie: Livio Andreina
Bühne, Kostüme, Masken, Figuren: AnnaMaria Glaudemans
Musik: Bruno Amstad
Lichtdesign: Rolf Derrer
Musikalische Leitung: Agnes Ryser und Susanne Theiler
Dramaturgie: Judith Gerstenberg

Das Volk von Einsiedeln

Benediktinerabtei- und Kathedralkirche Einsiedeln, 20. Juli 2024

von Dr. Charles E. Ritterband

Das vor mehr als einem Jahrtausend gegründete Stift um die mittelalterliche „Schwarze Madonna“ ist die wichtigste Wallfahrtsstätte der Schweiz, wird alljährlich von 800 000 Pilgern (und Touristen) besucht und ist Heim von rund 40 Benediktinermönchen.

Dieses Jahr wird das das große Welttheater vor der Kathedrale zum 17. Mal aufgeführt – und feiert sein 100-jähriges Jubiläum. Ursprünglich in der Fassung des wichtigsten spanischen Theaterschriftstellers seiner Zeit (er verfasste 120 Dramen – „Comedias“ – und 80 Fronleichnamsspiele).
Seit dem Jahr 2000 wird das symbolträchtige Stück des spanischen Dichters zum vierten Mal von zeitgenössischen Autoren weitergeschrieben, transformiert und unserer Zeit angepasst: zuletzt (2007) vom herausragenden Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann und in diesem Jubiläumsjahr vom Georg-Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss.

Auf dieser steinernen Bühne, „die die Welt bedeutet“, vor der imposanten Barockfassade der Kathedrale, tummelt sich das Volk des idyllischen Pilgerstädtchens im Herzen des Kantons Schwyz – zu Hunderten werden sie an diesen Abenden zu begeisterten Laiendarstellern im Welttheater.

Langsam senkt sich die Sommersonne über den riesigen Zuschauertribünen inmitten des Pilgerstädtchens Einsiedeln, auf denen nun Tausende aus der ganzen Schweiz herbeigereiste Zuschauer ihre Plätze suchen. Mächtig und imponierend sind diese Tribünenbauten inmitten des nur 14 000 Einwohner zählenden Ortes – doch überragt werden sie von der imposanten Barockfassade der weltberühmten Kirche, zu der alljährlich Hunderttausend pilgern.

Einsiedeln, Welttheater © Dr. Charles Ritterband

Gleich neben dem Eingang, im Innern des atemberaubend prachtvollen und zur Perfektion restaurierten Sakralbaus, hängen an einem Pfeiler die abgelegten Attribute einstiger und dank der wundertätigen Wirkung der legendären Schwarzen Madonna nun nicht länger benötigten Prothesen, Krücken und anderer Hilfsmittel der zuvor Behinderten. Während das Publikum jetzt in aufgeregt raunender Erwartung des Kommenden die Sitzplätze eingenommen hat, warten irgendwo, vorerst unsichtbar und zweifellos mit Lampenfieber hinter und neben den beiden Tribünen rund 500 Kinder, Frauen und Männer – sämtlich Einwohner des kleinen Städtchens, die sich an diesen Abenden in hingebungsvolle Laiendarsteller verwandeln.

Die Portrait-Fotos sämtlicher Darsteller und Darstellerinnen, die Fassade der Kathedrale © Dr. Charles Ritterband

Zwei Männer mit einem Lieferwagen und einem gigantischen Paket liefern den offenbar kabarettistischen und nicht ganz einleuchtenden Auftakt, dann zieht eine Blaskapelle wie man sie noch in den ländlichen Gegenden der Schweiz findet, quer über den Vorplatz, dann zwei schauspielende Kinder, deren Erwachsenwerden wir im Laufe des Stücks mitverfolgen können, dann treten allerlei allegorische Gestalten in phantasievollen Kostümen auf – das Stück mit viel symbolischer Substanz ist nun in vollem Gang.

Im Mittelpunkt immer wieder der etwas griesgrämig-pessimistische Spielleiter im beigen Regenmantel, der lakonisch Anweisungen gibt und andeutungsweise die Fragen der Kinder und der offenbar orientierungslosen Erwachsenen beantwortet: Befreit von der einst Orientierung bietenden göttlichen Ordnung, auf sich selbst geworfen, muss der Mensch selbst nach Bedeutung und Sinn suchen. Das dies schier unmöglich ist, wird in dieser zeitgenössischen Version des Welttheaters verstörend deutlich.

Einsiedeln, Welttheater © Dr. Charles Ritterband

Trotz des erzkatholischen Schauplatzes gibt es da kaum Tabus: Zwei eher grauenhafte Prostituierte treten auf und verschachern Kleinkinder zwecks sexuellem Missbrauch: Daneben ein Priester in schwarzer Soutane, der dazu sagt, dass er dafür nichts zu zahlen brauche, denn er kriege diese „Dienstleistung“ eh gratis: Ein kühnes Detail ausgerechnet an diesem Ort, wo 2011 durch eine unabhängige Untersuchungskommission festgestellt wurde, dass mindestens 15 Mönche dieses Klosters im Laufe der 65 vorangegangenen Jahre mindestens 40 Minderjährige sexuell missbraucht hatten. Auf Strafanzeigen wurde „wie damals üblich“ verzichtet. Erst 1998 hat das Kloster Richtlinien zu sexuellen Übergriffen erlassen.

Das fröhlich-unbeschwerte Spiel der Kinder auf dieser „schönsten Freilichtbühne der Welt“, wie die rührige Welttheatergesellschaft Einsiedeln stolz feststellt, wird von diesen nun hoffentlich der Vergangenheit angehörenden Tatsachen überschattet. Dass Hunderte von Einsiedlern mit Begeisterung und einiger Begabung sich diesem uralten Barocktheater hingeben ist per se ein einzigartiges Erlebnis, für das es sich zweifellos lohnt, die Reise in die herrliche Zentralschweiz anzutreten.

Dr. Charles E.  Ritterband, 20. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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