Foto: © Kai Bienert
Philharmonie Berlin, 26. Januar 2020
Robin Ticciati, Dirigent
RIAS Kammerchor Berlin
Ondrej Adámek, Choreinstudierung
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
von Gabriel Pech
Für welches Publikum spielt man eigentlich? Was ist den Leuten zuzutrauen? Was wollen sie eigentlich und wissen es vielleicht noch gar nicht? In der Pause fliegen Gesprächsfetzen durchs Foyer: Zwischen »…etwas vollkommen anderes erwartet…« und »…toll, einfach toll!« und sogar »…das war ganz, ganz furchtbar!« gehen die Meinungen auseinander. Die Prämisse ist aber auch gewagt: Neben den ›alten Meistern‹ Dvořák und Ellington steht ein brandaktuelles Stück von Ondrej Adámek, eine performative Klanginstallation, die so manchen altgedienten Abonnenten in seinen Klangvorstellungen erschüttert haben könnte.
Robin Ticciati ist mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) und dem RIAS Kammerchor ein Konzert gelungen, das komplett verschiedene Bestandteile in all ihrer Ähnlichkeit zusammenbringt. Im Zentrum des Abends steht Antonín Dvořáks weltberühmte Symphonie Nr. 9 ›Aus der neuen Welt‹ (1893), die bestimmt den Großteil des Publikums in die ausverkaufte Philharmonie gezogen hat. Dem gegenüber steht ›Harlem‹ (1950), mit dem der Abend beginnt. Dieses „Concerto Grosso“ von Duke Ellington verbindet den Jazz der Straße mit dem symphonischen Schmalz des Konzertsaals. Ellington und Dvořák schenken uns beide ihre Sicht auf Amerika – einmal die eines böhmischen Klassikers mit dem Auftrag, eine neue amerikanische Musik zu entwickeln, und zum anderen die des eingefleischten Jazzers mit einer besonderen Begabung im Symphonischen.
Dazwischen nun also Ondrej Adámek mit ›Kameny‹, zu deutsch ›Steine‹. Steine, die man über einen See schießen lässt, und Steine bei der Hinrichtung einer jungen Frau. Diese beiden gegensätzlichen Situationen stellt Adámek nicht als Kontrast dar, sondern eher als Variationen der selben Thematik.
Großartig ist dieses Stück alleine deswegen, weil es den 24 Stimm- und den 17 Instrumentalkünstler*innen einiges an Handwerkskunst abverlangt, die die Musiker*innen aus dem RIAS Kammerchor und dem DSO scheinbar mühelos aufbringen. Bezaubernd sind die intensiven Klangteppiche, die der Chor scheinbar aus dem Nichts greift und die auch aus absolutem Chaos wie ein Glockenklang erstehen. Die Stimmen schmiegen sich lustvoll an Dissonanzen und dahingleitende Glissandi im perfekten Unisono.
Auch die Effekte auf den Instrumenten sind bewundernswert. Es gilt das Bonmot von Helmut Lachenmann: »Komponieren heißt: ein Instrument bauen.« Das Ensemble klingt wie ein einziges Instrument, das in den verschiedenen Klangkombinationen immer neue Farben malt und Melodien oder Gedanken mühelos von einem zum anderen weitergibt.
Gemein mit den anderen Werken des Abends ist diesem der filmische Charakter. Es wirkt fast wie ein Hörspiel, was wir hier erleben. Das erleichtert den Zugang zu dieser musikalischen Sprache ungemein. Wie mit Soundeffekten wird eine Geschichte gemalt, die mitreißend und überirdisch ist.
Ticciati ist bei alledem manchmal der Dirigent, manchmal aber auch der Vortänzer. Ihm liegt das Performative, das Schauspielerische dieses Werkes. Diese Freude am Spiel überträgt er auch auf die anderen Mitwirkenden. Er tanzt durch den Abend und es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen. Dieses Tänzerische begleitet uns auch während der beiden anderen, ›konventionelleren‹ Werke.
Duke Ellingtons ›Harlem‹ ist im Grunde eine Programmmusik, die wie in einem Filmausschnitt durch den New Yorker Stadtteil und damit eine swingende, vibrierende Metropole der 40er Jahre führt. Bevor das Stück beginnt, führt der Komponist ›persönlich‹ via Audioaufnahme in sein Stück ein und lässt damit diese Ära wieder auferstehen.
Die vielartigen Stile und Rhythmen meistern Ticciati und das DSO virtuos. Während der Swing nahezu ekstatisch wirkt, sind die symphonischen Streicherpassagen breit und ›schmalzig‹. Alles ist erfüllt von einer überbordenden Energie, die nicht zuletzt durch die Soloklarinette so berauschend ist. Eine besondere Nennung verdient der Schlagzeuger, dessen Solo kurz vor Ende des Stückes noch einmal heraussticht. Es gelingt ihm, den Höhepunkt noch enthusiastischer zu inszenieren, indem er einen starken dynamischen Rückgang nicht scheut. Und Ticciati tanzt dazu.
Antonín Dvořáks Symphonie Nr. 9 ›Aus der neuen Welt‹ ist in diesem Konzert eingebettet zwischen zwei Spirituals. Das stellt einen Bezug zu den afroamerikanischen Melodien her, die auch Dvořák als Vorlage für seine Musik gedient haben. Während der dadurch entstehende Effekt zu Beginn des Werkes sehr stimmungsvoll und passend ist, wäre der Spiritual nach dem fulminanten letzten Satz vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen.
Ticciati spielt im Adagio – Allegro molto mit dem An- und Abschwellen des Orchesters. Sowohl im Tempo als auch in der Dynamik herrscht eine stetige gefühlvolle An- und Abnahme. Er findet neue Zusammenhänge der Phrasen und setzt sie kunstvoll zueinander – als würde die Partitur atmen. Dabei verliert er nie eine verspielte Grazie und tanzt selbst dazu. Auch im Largo beweist er eine gekonnte Linienführung und vermag jeder Melodie eine verbindliche Richtung zu geben. Durch seinen Mut zur Flexibilität bleibt der Teil auch in seiner Ruhe durchweg aufregend. Das Scherzo zieht er energisch durch, wie getrieben von den immer neuen Einfällen der Musik. Ihm gelingt eine schillernde Klangfarbe, die dem Ganzen einen majestätischen Charakter verleiht. Beim Allegro con fuoco bleiben schließlich keine Wünsche mehr offen. Auch hier beweist er eine pflichtbewusste Loyalität zur Phrase, die er jeweils herausstellen will. Dieses große Finale sprüht über vor Dominanz und Energie, was es zuletzt sehr schwer macht, den Applaus zurückzuhalten, weil ja noch das Spiritual hinterher kommt.
Ticciati tanzt durch diesen Abend und es macht Spaß, ihm dabei zuzusehen, innerlich mitzutanzen und sich auf dieses Wechselbad der Gefühle einzulassen. Durch die geniale Zusammenstellung dieser kontrastierenden Werke haben bestimmt einige Menschen etwas erlebt, was ihnen sonst verschlossen geblieben wäre. Man kann sagen: ›Zum Glück!‹
Das Konzert wird am 28. Januar ab 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur gesendet und steht danach in der Mediathek zur Verfügung.
Gabriel Pech, 27. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm:
Duke Ellington
›Harlem‹, orchestriert von Luther Hendersen und Maurice Peress
Ondrej Adámek
›Kameny‹ für Chor und 17 Instrumente
Spiritual
›Steal Away‹ für Chor a cappella, arrangiert von Timothy Brown
Antonín Dvořák
Symphonie Nr. 9 e-Moll ›Aus der Neuen Welt‹
Spiritual
›Deep River‹ für Chor a cappella, arrangiert von Norman Luboff
Danke für diese ausführliche Rezension! Von der sogenannten „professionellen“ Zunft der kritischen Schreiberlinge hat sich niemand für dieses Konzert interessiert…..
Grabenassel