Tobias Kratzer, der designierte Hamburger Opernintendant, erklärt bei der Nacht der ZEIT, er werde lieber ausgebuht als nur beklatscht 

Ein Abend mit Tobias Kratzer, dem neuen Chef der Hamburger Staatsoper, Gespräch mit Florian Zinnecker, Ressortleiter der Zeit  Universität Hamburg, 8. Juni 2024

Tobias Kratzer mit Florian Zinnecker, Moderator der Wochenzeitung DIE ZEIT, Ressort Hamburg. Foto © Dr. Ralf Wegner

Der Herr Operndirektor wäre angehalten, jeden Tag neue frische Blumen unter das Porträt von John Neumeier zu legen (der vermutlich mehr als 50% der Einkünfte am Haus generiert). Tobias Kratzer wird um dieser Replik willen sicher nicht böse sein, denn ihm sei ein Buh lieber als reiner akklamativer Beifall. Jedenfalls geht er nur bei Buhrufen noch ein zweites Mal auf die Bühne, um zu zeigen, dass er nicht feige ist.

Raus aus dem Schatten der Elbphilharmonie!
Ein Abend mit Tobias Kratzer, dem neuen Chef der Staatsoper Hamburg, Gespräch mit Florian Zinnecker, Ressortleiter der ZEIT Hamburg

Hörsaal Erziehungswissenschaften, Universität Hamburg, 8. Juni 2024

von Dr. Ralf Wegner

Tobias Kratzer wirkte eigentlich ganz sympathisch, in seinem Wachmannaufzug mit Käppi. Eine Barriere zum Publikum entfiel damit, man hätte am liebsten gleich mit ihm persönlich gesprochen. Und er sprach sehr, sehr schnell. Schnelles Sprechen ist ein Zeichen von Intelligenz. Zumindest korreliert schnelles Vorlesen hochgradig mit manchen Intelligenztests. Und wendig war Tobias Kratzer auch. Er übernahm schnell vom Moderator Florian Zinnecker angefangenes modernistisches Sprachklicken und erkannte gleichzeitig, dass doch viele Ältere unter dem Publikum seinen Worten lauschten. Die Frage des Moderators nach einem neuen jungen Opernpublikum beantwortete er denn auch zunächst ganz im Sinne des Moderators, fügte aber schnell hinzu, dass für ihn die über 50-, über 60- und über 70-Jährigen auch angesprochen und im Hause gehalten werden müssten.

Und Kratzer gab auf alles kluge Antworten. Leider widmete sich der sichtlich im alltäglichen Operngeschäft nicht sehr versierte Moderator weite Teile des Gesprächs biographischen Aspekten (frühe Opernleidenschaft, Kunstgeschichtsstudium etc.) und beschäftigte sich ausgiebig mit dem Thema Inszenierung von Opern. Nun ist Kratzer im Hamburg ja nicht als Chefregisseur, sondern als Opernintendant für einen deutlich weiter gefassten Aufgabenbereich engagiert worden. Dazu gab Kratzer einiges preis: Die logistischen Abläufe im Hinterhaus müssten verbessert werden und im Vorderhaus die Kommunikation. Ihn wundere auch, warum im Foyer nur ein Bild, und zwar von John Neumeier hänge, die „Zuschauer:innen“ würden nie etwas anderes sehen.

Dass aber gerade John Neumeier zu Recht dort hängt, da das Haus mit den vom Ballett erzielten Einnahmen gerade noch am Laufen gehalten wird, lag dem Moderator leider nicht auf der Zunge. Vielmehr erwähnte er eine aktuelle Durchschnittsauslastung des Hauses von 69%, ging aber nicht weiter darauf ein, das von den ca. 250 Aufführungen (Saison 23/24) im großen Haus knapp 40% (37%) vom Hamburg Ballett absolviert werden und letztere eine Auslastung von wohl mehr als 95% aufweisen.

© Westermann, Staatsoper Hamburg

Hochgerechnet auf die Opernauslastung wären das dann nur noch etwa 50%. Bezogen auf die Gesamteinnahmen im Großen Haus werden vom Ballett (ca. 10% höhere Preise) ca. 55% und von der Oper nur noch 45% der Gesamteinnahmen erwirtschaftet. Der Herr Operndirektor wäre daher angehalten, jeden Tag frische Blumen unter das Porträt von John Neumeier zu legen. Bedenken Sie das, lieber Herr Kratzer. Tobias Kratzer wird um dieser Replik willen sicher nicht böse sein, denn ihm sei ein Buh lieber als reiner akklamativer Beifall, wie er freimütig bekannte.

Jedenfalls gehe er nur bei Buhrufen noch ein zweites Mal auf die Bühne, um zu zeigen, dass er nicht feige sei. Das ist doch auch in Ordnung.

Was gibt es noch zu berichten; über die Spielpläne gab Kratzer wenig bekannt. Die Eröffnung werde jedenfalls keine Oper sein. Das erste Jahr gelte der Fortführung der bereits bestehenden Planungen (Kernrepertoire), das zweite bringe die Öffnung nach außen, im dritten Jahr stehe die 350-Jahr-Feier an, im vierten Jahr müsse mit einem Durcheinander gerechnet werden und im fünften gäbe es möglicherweise eine Abschiedspartie.

Die Fragen des Moderators der Zeit bezogen sich auch auf einen in der Diskussion befindlichen Neubau des Opernhauses. Kratzer blieb diplomatisch. Er trete für das Haus an der Dammtorstraße an, und wenn es während seiner Intendanz ein neues gäbe, würde er darüber nachdenken. Gute Architektur ziehe auch weiteres Publikum an, dabei verwies er auf das schneeweiße Osloer Opernhaus am Fjord der Bjørvika-Bucht, ein gutes Beispiel sei zudem die Elbphilharmonie. Wir hätten ein wunderbares Opernorchester, welches ja auch in der Elbphilharmonie auftrete.

Zu einem wesentlichen Aspekt des Opernlebens wurde vom Moderator überhaupt nicht gefragt: Dem Einfluss der sängerischen Leistung und vor allem der großen Namen auf die Einnahmen an der Kasse. Denn davon leben andere Opernhäuser wie jene in München oder Wien. Allerdings ist die Konkurrenz durch Musikinteressierte anderer Couleurs dort auch nicht so groß. Denn in Hamburg wollen jeden Abend ca. 7.000 Musicalplätze von Hamburgbesuchern und Hamburgbesucherinnen gefüllt werden.

Dr. Ralf Wegner, 9. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Mieczysław Weinberg, Die Passagierin Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, München, 10. März 2024 PREMIERE

6 Gedanken zu „Ein Abend mit Tobias Kratzer, dem neuen Chef der Hamburger Staatsoper, Gespräch mit Florian Zinnecker, Ressortleiter der Zeit
Universität Hamburg, 8. Juni 2024“

  1. Schnelles Sprechen korreliert mit Intelligenz. Vielen Dank Dr. Wegener für diesen Ego-Boost. Ich wußte es ja schon immer, dass ich eine Intelligenz-Bestie bin. Mein Umfeld hätte halt mehr Freude, wenn ich langsamer sprechen würde.

    „Ironie off“

    Jürgen Pathy

  2. Dass man in Wien (Staatsoper) keine Konkurrenz hätte, bezweifle ich. Der Musikverein und das Wiener Konzerthaus müssen auch fast täglich gefüllt werden. Am Theater an der Wien hat man nochmals um die 1200 Plätze, die nicht leer bleiben sollen. 2000 + 1900 + 1200, macht nach Adam Riese 5100. Wirft man noch die kleineren Säle des WKs (Mozart – und Schubertsaal) in die Waagschale, sind wir bei etwas über 6000 Plätzen. Wien ist Wien. Damit kann sich keine andere Stadt messen.

    Jürgen Pathy

    1. Guten Herr Jürgen Pathy !
      Eine Korrektur der Sitzplatzzahlen in Wien –
      Konzerthaus – alle Säle – 3335
      Musikverein – alle Säle – 3220
      Theater an der Wien – 1130
      Raimundtheater – 1400
      Volksoper – 1300
      gesamt: 11385 Sitzplätze

      Ich frage mich, wie Herr Dr. Ralf Wegner auf 50 % Auslastung in der Hamburger Oper kommt? Die letzten Monate waren die meisten Opernaufführungen mit höchstens einen Viertel Zuschauer verkauft und das bei erheblich billigeren Eintritts-Preisen als in der Wiener Staatsoper.

      Mit freundlichen Grüßen
      Gerhard Fischer

  3. Lieber Jürgen Pathy,
    natürlich hat auch die Wiener Staatsoper Konkurrenz, vor allem hat Wien aber ein klassikbewusstes internationales Reisepublikum. Auch dank der großen Namen, die wegen der hohen Auslastung auch finanziert werden können. Aber nun zu den im Internet nachprüfbaren Hamburger Zahlen:
    Allein die fünf großen Musicalhäuser stellen insgesamt 8.900 Sitzplätze zur Verfügung. Dazu kommen noch kleinere Häuser im Bereich St. Pauli, die Musicals spielen. Und auch die Anzahl der Konzertplätze liegt in Hamburg mit 5.300 Plätzen (Elbphilharmonie und Laeiszhalle mit den großen und kleinen Sälen) nicht niedrig (auch wenn nicht immer parallel gespielt wird).

    Auch die Architektur der Häuser spielt sicher eine große Rolle, wohl eher nicht in Wien, aber z.B. in München oder im Palais Garnier in Paris. In München hat das Flanieren durch die wiedererstandenen Buntzucker-farbenen Foyers für Touristen und Einheimische sicher einen Eigenwert.

    Wieder auf Hamburg bezogen: Die drei Opernaufführungen von Oliver Messiaens Saint François d’Assise in der Elbphilharmonie waren nahezu ausverkauft (knapp 6.000 besetzte Plätze). Dasselbe Stück hätte in der Staatsoper wohl zu wesentlich geringerem Besuch geführt, Premiere gut besucht, danach vielleicht zu 30%, macht vielleicht 2000 besetzte Plätze.

    Eine neue Oper in der Hafencity mit signifikanter Architektur wäre für den Opernbesuch sicher sehr hilfreich. Ich bin aber nur dafür, wenn das Haus an der Dammtorstraße, natürlich nach Sanierung, weiter betrieben wird, schon aus historischen Gründen, und weil ich den modernen Saal mag. Dort sollte das Ballett ein eigenes Haus haben, wie in Kopenhagen oder in Paris. Zumal ja jetzt das Haus an der Dammtorstraße schon eher ein Balletthaus mit angehängtem Opernbetrieb ist, zumindest unter Aspekten des Erlöses an der Kasse.

    Ralf Wegner

  4. Lieber Herr Fischer,
    ich gebe Ihnen recht, dass die Auslastung von Vorstellungen mit Opern im Großen Saal der Hamburgischen Staatsoper mit durchschnittlich 50% recht hoch erscheint. Formal stimmt das aber, wenn man z.B. die Saison 23/24 mit 93 Ballett- und 153 Opernaufführungen heranzieht. Die Platzzahl im Haus ist bekannt. Man kann also die geschätzte 95%-Auslastung beim Ballett unter Berücksichtigung der Platzzahl herausrechnen und die Unbekannte (Auslastung Oper) berechnen. Ob allerdings auch die geschätzt hohe Auslastung der kleinen Opera stabile in die 69% integriert wird, habe ich bei der Pressestelle der Hamburgischen Staatsoper heute nachgefragt. Ich werde berichten.

    Dr. Ralf Wegner

  5. Heute teilte mir die Pressestelle der Hamburgischen Staatsoper mit, die vergangene Saison 2022/23 habe insgesamt eine Auslastung von 78,5% gehabt, die für die Opernsparte 69%. Ob bei der Berechnung der Auslastung für die Opernsparte auch die Auslastung der von der Platzzahl her kleinen opera stabile mit 14 Aufführungen und die opera piccola mit einem Singspiel für Kinder mit 21 Aufführungen ebenfalls in die Berechnung eingingen, wurde nicht mitgeteilt. Ich will das nicht weiter kommentieren.
    Hauptsache es wird gut gesungen und vom Orchester gespielt, und das ist ja schon seit längerem der Fall.
    Ralf Wegner

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