Festspielluft V: (K)ein Sommer ohne Thielemann

Festspielluft V: (K)ein Sommer ohne Thielemann  Bayreuth, 22. Juli 2023

Wolfgang Wagner und Christian Thielemann. Foto: © Bayreuther Festspiele

von Peter Walter

Katastrophenalarm in der Wagner-Welt: Zum ersten Mal seit 24 Jahren werden die heiligen Bayreuther Festspiele ohne ihren derzeitigen Dirigentengott Christian Thielemann stattfinden! Wo soll das hinführen? Fliegt als nächstes etwa Klaus Florian Vogt raus?

Tatsächlich ist die derzeitige Dirigatssituation eher kläglich. Das Dirigats-Niveau im letzten Jahr war oft kaum mehr als Mittelmaß und blieb den künstlerischen Ansprüchen dieses Hauses weit zurück. Einzig der Wagner-Gott Christian Thielemann und die neue Opernchefin in Bologna Oksana Lyniv hielten den Ruf des Hauses wie zwei Leuchttürme im Himmel.

Nun kehrt Thielemann nicht wieder. Naja, gut. Andere Häuser kommen auch ohne den umstrittenen „Polarisierer am Pult“ – wie ihn die Süddeutsche Zeitung einst nannte – bestens aus. Doch statt im Graben die musikalische Exzellenz dieses Hauses zu zementieren, spielt Katharina Wagner ihre Karten auf ein Wildcard-Trio mit wenig bis gar keiner Wagner-Erfahrung. Guggeis gefälligst? Wie wär’s mit Welser-Möst? Mallwitz vielleicht mal? Fehlanzeige. Die musikalische Leitung liegt weitgehend in den Händen unbekannter Gesichter.

Die gute Nachricht: Cornelius Meister ist weg und Oksana Lyniv bleibt. Schlechte Nachrichten gibt es leider viele. Werfen wir einmal einen Blick auf jene Dirigenten, die den Taktstock unter der berühmten Grabenlippe heben werden.

Oksana Lyniv. Foto: Oleh Pavliuchenkov (Bayreuther Festspiele)

Den Premieren-Auftakt haben die Verantwortlichen an Pablo Heras-Casado vergeben. Der 45-jährige Spanier gilt als Experte der historischen Aufführungspraxis, die Gralsburg ist für ihn musikalisches Neuland. Bei der derzeitigen Dirigatssituation ausgerechnet Wagners heiligstes Werk einem völligen Neuling in dieser Sache zu überlassen, ist künstlerisch grob fahrlässig.

Ebenfalls aus der historischen Aufführungspraxis kommt Nathalie Stutzmann. Mehr noch: Die diesjährige Tannhäuser-Dirigentin ist eigentlich Sängerin. 1985 begann sie ihre äußerst erfolgreiche Karriere als Altistin, erst 2008 folgte ihr Dirigats-Debüt.

Aber: Als erfahrene Sängerin hat sie wenigstens Ahnung von dem, was auf der Bühne geschieht. Szenen, wo DirigentInnen ohne Gesangsausbildung ihren Star-SängerInnen das Singen lehren wollen, dürften hier eher nicht zur Probenarbeit gehören. Und der Vize-Dirigats-Rekordhalter auf dem Grünen Hügel ist auch erst in zweiter Karriere am Pult gelandet. Frau Stutzmann sollte man auf jeden Fall eine Chance geben. Wildcard, ja, musikalische Harakirifahrt, nein.

Pietari Inkinen macht den Ring. Der Finne sollte ja eigentlich schon vor drei Jahren Wagners heilige Tetralogie übernehmen. Die Pandemie macht ihm gleich zweimal einen Strich durch die Rechnung – 2020 zum Schutz der Bevölkerung, 2022 hatte es ihn selbst schwer erwischt. Doch sein öffentlicher Probedurchlauf 2021 – ja, die konzertante Walküre mit den vielen Farbtöpfen – war ein respektabler Erfolg.

Ich sag mal so: Es gibt Dirigenten, bei denen könnte man wortwörtlich jeden Schwachsinn auf die Bühne stellen. Und die Leute würden trotzdem jubeln. Vor dem Hintergrund der teilweise nicht sehr populären Inszenierung wäre eine bewährte Kraft am Pult eine weise Entscheidung gewesen. Aber das könnte was werden. Und mit Cornelius Meister als Vorgänger kann es kaum noch bergab gehen.

Markus Poschner ist einzig aufgrund des letztjährigen, krankheitsbedingten Ausfalls von Pietari Inkinen auf dem Grünen Hügel gelandet. Dieses Dirigat war letztes Jahr wohl ebenso eine improvisierte Notlösung wie die Inszenierung und die Produktion allgemein. Aber er hatte jetzt ja ein ganzes Jahr Zeit, sich nach seinem spontanen Einsprung auf den Tristan vorzubereiten. Spätestens im Januar wird man dann ein genaueres Fazit ziehen können. Dann gibt’s Thielemann, Nylund und Vogt im Fernvergleich.

Bleibt noch Oksana Lyniv. Und die ist wirklich ein ganz, ganz heller und großer Lichtblick in der Nebellandschaft der diesjährigen Dirigate. Vor drei Jahren war noch die Frage „Oksana wer?“. Letztes Jahr hielt sie mit Christian Thielemann die bröckelnden musikalischen Leuchttürme dieses Hauses hoch. Nun könnte sie diese Aufgabe alleine stemmen müssen. Hoffen wir, dass Katharina Wagners Nase für neue Dirigentinnen auch Nathalie Stutzmann an den rechten Ort gestellt hat.

Summa Summarum: Thielemanns Fehlen ist wohl das geringste Problem auf dem Grünen Hügel. Mindestens zwei der fünf Inszenierungen sorgen für viel Skepsis in großen Teilen der Wagner-Fans und Finanzierer. Die Festspielleitung ist in Sachen Musik einfach zum Erfolg verdammt. Sonst wird es eng. Die vielen Fragezeichen im Graben werden da wohl kaum für Ruhe sorgen.

Aber: Der ersehnte Wagner-Gott war ja gut zwei Wochen vor der Bayreuth-Premiere auch in einer anderen Ecke der fränkischen Provinz zu hören. Und zwar als Bruckner-Gott. Also: Kein Sommer ohne Thielemann! Daran wird auch Katharina Wagner nichts ändern.

Peter Walter, 22. Juli 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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6 Gedanken zu „Festspielluft V: (K)ein Sommer ohne Thielemann
Bayreuth, 22. Juli 2023“

  1. Die Vergöttlichung des Egomanen ist einerseits peinlich, andererseits ein Zeichen von infantiler Götzenverehrung, die jedenfalls unangemessen ist.
    Thielemann hin und her, er macht sein schlechtes Benehmen leider nicht mit Dirigierkunst wett.

    Waltraud Becker

    1. Herr Thielemann ist einer oder nach meiner Meinung der beste gegenwärtige Dirgent in Oper und Konzert. Seine Umgangsformen mit dem Publikum sind sehr gut, auch bei persönlichen Gesprächen nach Vorstellungen. Er fehlt dieses Jahr extrem in Bayreuth.

      Klaus Keßler

  2. Ich glaube nicht, dass nur wegen Thielemann in Bayreuth die Luft raus ist, meiner Meinung nach liegt das ganz und allein an den schlechten Inszenierungen. Da gibt es aktuell nichts, was mich hinter dem Ofen vorlockt.

    Wenn der Hype um Herrn Thielemann so weiter geht, wird er wohl immer größenwahnsinniger. Nach allem, was man so hört, scheint ihm der Ruhm zu Kopf gestiegen zu sein.
    Übrigens gibt es für seine Konzerte mit den Wiener Philharmonikern in Salzburg am 28. und 30. Juli auch noch Karten!

    Cora Oertel

  3. Es gibt in der großen Opernwelt nicht den besten Dirigenten, die beste Sängerin oder den besten Tenor. Es gibt eine Reihe ausgezeichneter KünstlerInnen.

    Lothar Schweitzer

    1. Lieber Lothar,

      Du mit Deinen so erfahrungsreichen 80 Jahren als senior writer von klassik-begeistert hast auch in diesem
      Punkt mal wieder recht!

      Herzlich

      Andreas

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