La Capitale d’Été in Baden-Baden: Die Sommerfestspiele 2023 sind eröffnet

Gala-Konzert 25 Jahre Festspielhauses Baden-Baden  Baden-Baden, Festspielhaus, 1. Juli 2023

Foto © Andrea Kremper, MET_DiDonato

Der erste von zwei Abenden mit dem New Yorker MET Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin ist in Gänze der Musik von Hector Berlioz gewidmet


Baden-Baden, Festspielhaus, 1. Juli 2023

Hector Berlioz (1803-1869) – Le Corsaire op. 21; Auszüge aus Les Troyens; Symphonie fantastique op. 14

Joyce DiDonato, Mezzosopran

The MET Orchestra

Yannick Nézet-Séguin, Dirigent

 

von Brian Cooper, Bonn

Es ist ein Galakonzert, mit dem man das 25-jährige Bestehen des Festspielhauses Baden-Baden feiert. Und es ist leider nicht ausverkauft. „Was macht Baden-Baden falsch?“, fragt uns interessiert, und wie aus der Pistole geschossen, die seit Dekaden fest in der Region verwurzelte Gastronomenlegende später am Abend beim Krügle Bier in Rotensol, eine halbe Stunde von der Festspielstadt entfernt. Wir wissen es nicht, sind keine Betriebswirte, aber aus rein künstlerischer Sicht verstehen wir es auch nicht.

Da kommt regelmäßig die Weltklasse, und das größte Konzerthaus der Republik ist nicht brechend voll. Fürs kommende Wochenende wurden sogar Karten verlost. Sind es die Eintrittspreise? Die zahlt man doch hier aus der Portokasse – zumindest, wenn man anhand der Autos und sichtbar teuren Klamotten eine gewisse pekuniäre Potenz vermuten darf. Oder ist es die Sommerzeit, die man lieber draußen verbringt? Ist es gar Angst vor Corona? Wie gesagt: Wir wissen es nicht. Aber es ist sehr, sehr schade, denn „La Capitale d’Été“ ist schon jetzt etwas ganz Besonderes in der hiesigen Musiklandschaft.

Zum zweiten Jahr in Folge also präsentiert das Festspielhaus Baden-Baden sein Sommerfestival um und mit Yannick Nézet-Séguin, der dieses Jahr mit dem MET Orchestra sowie einmal mehr mit dem Chamber Orchestra of Europe und als Pianist auftritt. Steht das kommende Wochenende fast ganz im Zeichen von Johannes Brahms, geht es am ersten Wochenende lyrisch-dramatisch zu. Denn es spielt ein ausgewiesenes Opernorchester, das eher im Graben denn auf der Bühne und eher im Opernrepertoire denn in der Sinfonik zu erleben ist. Am ersten Wochenende in Baden-Baden gibt es beides, große Oper (Berlioz und Verdi) wie Sinfonisches.

MET, DiDonato © Andrea Kremper

Seit zwanzig Jahren ist das MET Orchestra, also das Orchester der New Yorker Metropolitan Opera, nicht in Europa gewesen. Nach der Ära James Levine, dessen Name kaum noch in den Mund genommen wird, ist nun Yannick Nézet-Séguin seit knapp fünf Jahren Music Director des MET Orchestra, das auf seiner diesjährigen Tournee Station in nur drei Städten macht: Paris (zwei Konzerte), London (ein Konzert) und eben Baden-Baden. Dorthin, und nicht etwa nach Wien, verschlägt es das Orchester mit den beiden Pariser Programmen, da Nézet-Séguin und Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa seit Dortmunder Tagen einen guten Draht zueinander haben.

MET, DiDonato © Andrea Kremper

Der erste der beiden MET-Abende stand ganz im Zeichen von Hector Berlioz, der einen engen Bezug zur Stadt an der Oos hatte. Wie im Jahre 1859 gab es denn auch an diesem Samstag Auszüge aus der 1856 begonnenen Oper Les Troyens zu hören, die übrigens erst 1890 ganz in der Nähe uraufgeführt wurde, nämlich in Karlsruhe.

Für die beiden großen Arien „Chers Tyriens“ und „Adieu, fière cité“ hatte man Joyce DiDonato gewonnen, die an diesem Abend in atemberaubender Form war. Insbesondere in der zweiten Arie legte sie noch eine Schippe drauf, was Stimmgewalt wie Schauspielkunst betrifft. Ihr dunkles Mezzo-Timbre ist in der Mittellage angenehm, in der Höhe nie schrill, und ihre Diktion ist einfach phänomenal: Man braucht, sofern man des Französischen mächtig ist, keine Übertitel (was ja heute eher selten ist). Dazu trug auch das stets aufmerksam begleitende Orchester bei, dessen Chef die Sängerin alles überstrahlen ließ.

MET, DiDonato © Andrea Kremper

Eine frustrierende Pointe ergab sich aus der Tatsache, dass in einem besonders ruhigen Moment, unmittelbar bevor die von DiDonato verkörperte Dido vom Sterben und von ewigem Kummer sang, ein Handy die Magie des Moments entweihte. Schade, dass es auch in Baden-Baden, wo ansonsten ein zivilisiertes Publikum sitzt, zu solchen Szenen kommt. Das fanfarenartige Naseputzen während eines besonders berückenden Klarinettensolos in der Symphonie fantastique war ebenfalls wirklich unnötig und unsensibel.

Die chasse royale aus den Trojanern gelang prächtig. Sie ist eine Art Pastorale auf Speed, wobei es nicht nur gewittert, sondern offenbar auch ganz gehörig herumgeballert wird. Berlioz’ Umgang mit Schlaginstrumenten, in seiner Totenmesse völlig auf die Spitze getrieben, ist ja eher großzügig…

Mit einem beeindruckenden Statement – hier sind wir wieder, nach 20 Jahren! – hatte der Abend begonnen. Le Corsaire ließ nichts zu wünschen übrig. Los ging der Reigen mit blitzsauber und präzise aufspielenden Geigen, deren haarsträubend schnelle Läufe von Holzbläsern garniert werden, bevor es ziemlich schnell lyrisch und ruhig wird. Diese Musik ist unverkennbar Berlioz, und am C-Dur-Ende fühlt man sich sehr an die Symphonie fantastique erinnert, die nach der Pause folgte. (Großer Jubel übrigens zur Pause, aber keine stehenden Ovationen.)

Das op. 14 ist sicher Berlioz’ bekanntestes Werk, und es ist einfach ein Geniestreich. Selbst wenn man nicht um den Opiumrausch weiß oder gar Leonard Bernsteins genialen Vortrag darüber kennt, kann man die Musik genießen. Es ist das Stück, mit dem ich Yannick Nézet-Séguin zum ersten Mal hörte, und obgleich das MET Orchestra wunderbar spielte: An das singuläre Kölner Ereignis mit dem London Philharmonic im Jahre 2010 (?) kam es nicht heran.

Zu Beginn des ersten Satzes ist eine winzige Stelle in den Streichern ganz leicht auseinander. Eine Handbewegung reicht, um alles zu korrigieren. Das ist Dirigierkunst. Lange in Erinnerung bleiben wird nach dem energiegeladen dirigierten ersten Satz der zweite. Die beiden roten (wunderschön anzusehenden) Salzedo-Harfen sorgten unter den vier Händen ihrer Musikerinnen sofort für Parfum; das so schwer zu dirigierende ritardando des A-Dur-Themas sprühte förmlich vor tänzerischem Charme.

MET, DiDonato © Andrea Kremper

Im dritten Satz überragten – selbstredend neben Oboe und Englischhorn – die Streicher, und hier insbesondere die Cellogruppe. Im anschließenden Marsch bewies das Blech, dass auch piano eine hehre Kunst ist – man war schwer beeindruckt von den sordinierten Hörnern zu Beginn. Aber wenn die Posaunenriege losbrettert (und wie!), sorgt auch das für Glücksgefühle.

Nach allen Sätzen – mit Ausnahme des Übergangs zwischen drittem und viertem Satz – versuchten sich einige Hartnäckige am Zwischenapplaus, was jeweils durch eine Geste des Dirigenten unterbunden wurde. Vor dem fünften Satz amüsierte er sein Publikum, indem er an einer Hand fünf Finger abzählte: Ja, liebe Leute, das Stück hat fünf Sätze, auch wenn der vierte laut endet. Im fünften Satz übrigens gab es einen Schreckmoment: Da hat doch nicht etwa die Glocke dreimal C geschlagen statt nur zweimal? Ganz groß hingegen gelang der Aufbau zum Ende der Sinfonie: Die Streicher, allesamt sul ponticello spielend, auf dem Steg, sorgten für grausigste Klangfarben, und zwar im positiven Sinne!

MET, DiDonato © Andrea Kremper

Überhaupt möchte man mehr Berlioz hören – gern auch abseits seines op. 14. Ich krame zuhause die Opern mit Sir Colin Davis und dem LSO hervor, sowie die seit Jahren ungelesene doppelbändige Berlioz-Biographie von David Cairns.

Nach Ende des offiziellen Programms erschien die Yankeediva, wie sie sich selbst nennt, überraschend wieder auf der Bühne. Selbstverständlich in einem neuen Kleid. (Das macht man so, erklärte mir mal eine Sopranistin.) Mit Morgen! von Richard Strauss (op. 27,4), sehr einfühlsam von Konzertmeister Benjamin Bowman begleitet, wurde man in den Abend entlassen. Ein schönes Konzert, das Lust auf den Folgetag und vor allem auf mehr Berlioz macht.

Dr. Brian Cooper, 3. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Projekt „Eden“, Joyce DiDonato Auditorium  Grafenegg, 2. September 2022

Orchestre Métropolitain de Montréal, Yannick Nézet-Séguin, Elbphilharmonie

Musikfest Berlin: The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Philharmonie Berlin, 1. September 2022

Les Troyens, Hector Berlioz, Bayerische Staatsoper, München, 09. Mai 2022 PREMIERE

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