Fotos: Herwig Prammer (c)
Theater an der Wien, Georg Friedrich Händel, Alcina
Premiere, 15. September 2018
von Renate Wagner (onlinemerker.com)
Alcina, die so oft vertonte Heldin aus dem „Orlando furioso“, haust bei Händel auf ihrer Zauberinsel der Lüste, zieht Menschenmänner in ihren Bann und verwandelt sie in Tiere – bis sie ihrer Macht beraubt wird. „Alcina“ war 2010 in der Wiener Staatsoper der erste Erfolg der Direktion Dominique Meyer mit „alter Musik“, die sich im übrigen doch noch immer fest im Besitz des Theaters an der Wien befindet. Da holte man nun auch „Alcina“ hervor – in der sicher richtigen Überlegung, dass Barockfans es sogar genießen werden, eine ihrer Händel-Opern nun in einer ganz anderen Interpretation zu sehen.
Die damalige in der Staatsoper war auf ihre Art geglückt, vor allem ein ästhetisches Vergnügen, dargestellt als Fest am Hof einer britischen Herzogin (hier glänzte Anja Harteros), die selbst in die Rolle der Alcina stieg. Da hat die Rahmenhandlung für „Theater auf dem Theater“ gesorgt und solcherart über alle Seltsamkeiten der Geschichte hinweggespielt – die übrigens so seltsam nicht ist, denn wo sollten denn Wunder und Magie eher zuhause sein als auf der Bühne?
Das Theater an der Wien, in dem die Aufführung nur knapp dreieinhalb Stunden dauert, weil man gänzlich auf das Ballett verzichtet hat, engagierte erneut Tatjana Gürbaca, der ja einst zu Strauss Fürchterliches und zu dem zerstückelten Wagner-„Ring“ auch nicht viel Gescheites eingefallen ist. Mit der „Alcina“ rutscht sie nur selten in allzu schlimme Willkürlichkeiten, obwohl es auch diese gibt, aber jedenfalls siedelt sie die Handlung des Werks dort an, wo es spielt: auf einer Insel.
Allerdings ist diese auf der Drehbühne grau in grau ausgefallen (Ausstattung: Katrin Lea Tag), und dass hier Lust und Verführung herrschen sollen, sieht man zwar in seltsam erotischen Verdrehungen von Chor und Statisterie, aber im Grunde wirkt das alles gänzlich unsinnlich. Dass Alcinas Erscheinen mit einem mittleren Mörbisch-Feuerwerk angekündigt wird, wirkt eher albern, bringt wenig Glanz. Kurz, wenn ganz am Ende, ganz heutig, Polizei-Bänder um die Insel gespannt werden, ist völlig klar, dass die Regisseurin sie die ganze Zeit nur als Gefängnis, nicht als Ort der Freuden betrachtet hat. Na ja, wir sehen Alcina schließlich dabei zu, wie sie Männer mit schwarzen Kopf-Aufsätzen in Tiere verwandelt…
Die Handlung ist relativ simpel – Alcinas derzeitiger Favorit Ruggiero, der völlig vergessen hat, wer er ist und in T-Shirt und Boxershorts erotisch zur Verfügung steht, soll heimgeholt werden. Zu diesem Zweck landen (Alcina hat Spielzeugschiffchen bewegt – es hat etwas Shakespeare-Sturm-haftes, wenn dann ein Schiff kentert) hier zwei Herrschaften per Unfall auf der Insel, Ruggiero Verlobte Bradamante, als Mann verkleidet, dazu ihr Begleiter Melisso, der nötigen Gegenzauber bei der Hand hat.
Sonst gibt es nur drei Nebenpersonen – Alcinas Schwester Morgana und deren Liebhaber Oronte, dem man in dieser Inszenierung dabei zusehen kann, wie er sich buchstäblich das Herz aus dem Leib herausreißt (!). Immerhin das stärkste Exzess der Regisseurin. Und da ist auch noch die Rolle des kleinen Jungen, die von einem Sängerknaben gesungen wird (in der Staatsoper gab es damals den Publicity-Wirbel um den jungen Alois Mühlbacher).
Der Rest besteht darin, zur Abfolge der Arien das Bühnenbild gelegentlich leicht, aber immer gleich düster zu verändern und das Hintergrund-Personal mehr oder minder sinnvolle (durchaus nicht immer erkennbare, aber oft auch ganz unwichtige) Aktionen ausführen zu lassen. Alcina vervielfältigt sich gelegentlich, keiner weiß warum, und im übrigen stehen die Figuren – die Herren in zeitgemäßer Tageskleidung, die Damen in langen Gewändern – in doch einsichtigen Beziehungen zueinander. Warum ein Pärchen plötzlich unter dem Regenschirm steht – hatte Tatjana Gürbaca Angst, ihrem Ruf nicht gerecht zu werden, wenn sie nicht gelegentlich irgendeine Schrägheit ins Geschehen würzt?
So sehr ein richtiger Rahmen jeder Händel-Oper gut tut, so liegt das Gelingen eines Abends ja doch immer bei den Sängern. Direktor Geyer entschuldigte die Hauptdarstellerin, die Hexe habe Hexenschuß, aber man hatte nicht den Eindruck, dass es Marlis Petersen am Rücken fehlte. Weit eher an Stimme und Impetus. Bis zur Pause war sie akustisch mit höchstens halber Kraft unterwegs, fast beiläufig im Gesang, und wenn etwas Nachdruck nötig wurde, merkte man, dass die Stimme an Substanz und Resonanz eingebüßt hat und sie sich auch hörbar darum drückte, Virtuoses entsprechend klingen zu lassen. Erst nach der Pause, wenn Alcina (man hat ihr den Liebhaber und ihre Macht genommen) nach und nach in den Abgrund der Verzweiflung rutscht, „errappelte“ sich Marlis Petersen zu der extrem intensiven Gestalterin, als die man sie kennt, wo dann die Stimme nicht mehr für Wohlklang, sondern für Ausdrucksstärke gefordert ist. Dennoch – so wirklich glanzvoll, dämonisch, mitreißend war diese Zauberin nicht.
Der Liebhaber Ruggiero, den man in der Staatsoper mit Vesselina Kasarova besetzt hatte, ist nun wieder bei einem Countertenor gelandet. David Hansen erfüllt alle Wünsche jener, die diese Stimmlage so hell, so scharf, so exzessiv wie möglich lieben – bei den anderen ist Kopfweh und Hörsturz nicht weit. Zwei ansprechende Gestalten stellen die attraktive Katarina Bradić als dunkelstimmige Bradamante und die zauberhaft mädchenhafte Mirella Hagen als Morgana auf die Bühne. „Normale“ Männerstimmen kommen von dem kraftvollen Tenor von Rainer Trost und dem schönen Bass von Florian Köfler. Den jungen Oberto sang nicht ganz sattelfest ein Florianer Sängerknabe. Der Arnold Schoenberg Chor (geleitet von Erwin Ortner) war diesmal nicht im üblichen Umfang gefordert.
Ein wichtiges Element für den Sieg des Abends war das Orchester. Nach dem Tod seines Gründers und Leiters ist der Concentus Musicus Wien ganz harmonisch in die nächsten Hände übergegangen: Thronfolger Stefan Gottfried steht vor einem perfekten Klangapparat und kann etwas damit anfangen. Das bezieht sich auf den „Händel-Klang“ der alten Instrumente, auf virtuose Solopassagen, auf perfekte Sängerbegleitung und starke Betonung der Stimmungselemente des Werks – da kommen Seelenzustände aus der Musik. Nur gelegentlich, wenn’s tragisch wird, neigte der Dirigent allzu sehr zum Schleppen – man muss ja vor lauter Ergriffenheit nicht gleich stehen bleiben.
Das Theater an der Wien hatte mit „Alcina“ einen jener Erfolge, der dem Haus für „alte Musik“ stets zuteil wird. Stürmischer Jubel für alle Beteiligten.
Renate Wagner, 16. September 2017