Oper unter dem Damoklesschwert eines drohenden Lockdowns: Münchens „Carmen“ begeistert dezimiertes Publikum

Georges Bizet, Carmen,  Bayerische Staatsoper, 24. November 2021

Bayerische Staatsoper, 24. November 2021
Nationaltheater München

Fotos: W. Hösl ©

CARMEN
Opéra comique in drei Akten (vier Bildern)

Komponist Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper Mérimée

von Dr. Petra Spelzhaus

Wir leben in düsteren Zeiten. Bereits in meiner letzten Rezension des „Troubadours“ an der Bayerischen Staatsoper vor drei Wochen war das ein Thema. Und die Zeiten sind noch düsterer geworden. Steigende Corona-Zahlen sorgen dafür, dass die Zuschauerzahlen auf ein Viertel zusammengeschrumpft werden. Jeder, der das Nationaltheater betritt, ist akribisch auf 2G+ überprüft. Wer keinen aktuellen Covid-Test mitgebracht hat, kann diesen in einer kleinen Teststation im Opernhaus nachholen. Das Angebot wird reichlich genutzt. Für den ein oder anderen wird die Zeit knapp, da die Auswertung bis kurz vor Aufführungsbeginn dauert. Übersichtlich ist es im Zuschauerraum, nachdem die 525 Gäste Platz genommen haben. Er fasst normalerweise über 2000. Staatsintendant Serge Dorny tritt vor den Vorhang und bedankt sich beim Publikum für die Mühe, die es für den Opernbesuch auf sich genommen hat. Das zeige, dass man weitermachen müsse. Applaus brandet auf.

Die Ouvertüre startet schmissig mit Paso Doble- und Flamenco-Rhythmen. Nach einem furiosen Accelerando werden wir entführt in das gelobte Land mit hoher Impfquote und einer Trauminzidenz von 85.8 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, nach Spanien. Auf einem belebten Platz im Sevilla vor 200 Jahren herrscht während der Wachablösung der Soldaten ein reges Markttreiben. Die Zigeunerin und Zigarrenmacherin Carmen sammelt eine Blume auf. Diese wirft sie später dem Sergeant Don José vor die Füße, beide verlieben sich ineinander. Da die Liebe jedoch bunte Flügel hat, wie Carmen in der berühmten „Habanera“ singt, wandert sie schnell vom braven, gutbürgerlichen Soldaten zum Macho, dem erfolgreichen Torero Escamillo. Don José, der Dank Carmen im Untergrund gelandet ist, ersticht – getrieben von verletzter Liebe und Eifersucht – seine Angebetete. Carmen verliert zwar ihr Leben, gibt aber nicht ihre Freiheit preis.

Varduhi Abrahamyans Carmen beginnt ein wenig verhalten, fast schon lieblich, passend zum unscheinbaren Gewand. So wie ihre Kleider feuriger werden, so wird Carmen immer mehr zu einer rassigen Femme fatale. Die armenische Mezzosopranistin besticht durch ihre schön gefärbte volle bewegliche Stimme mit dunklem Timbre. Zum Dahinschmelzen sind ihre Piani im hohen Register.

Foto: Petra Spelzhaus (c)

Dmytro Popov interpretiert den Soldaten Don José mit einem warmen Tenor. Die Stimme des Ukrainers gleitet geschmeidig durch sämtliche Register. Mal schmachtet er hinreißend lyrisch, um dann wieder zur wilden Furie zu werden. Die Blumenarie trägt Popov leidenschaftlich mit viel Schmelz vor und erntet dafür zurecht beachtlichen Szenenapplaus.

Micaëla, die ebenfalls Don José liebt und ihn in sein bürgerliches Leben zurückführen möchte, wird von der Italienerin Rosa Feola überzeugend dargestellt. Ihr samtener Sopran ist warm in der Tiefe und entfaltet sich leuchtend in der Höhe, das Vibrato ist angenehm. Nach dem „Je dis que rien ne m’épouvante“ wird heftigst applaudiert.

Escamillo, der leidenschaftliche Torero, wird von Alexander Vinogradov elegant und zugleich kraftvoll interpretiert. Der Bariton besticht durch sonore Tiefen, in den Höhen lassen sich Bronzenuancen wahrnehmen. Für den Welthit „Toreador“ wird er vom Publikum ebenso begeistert gefeiert wie vom Volk auf der Bühne.

Die Sprechszenen bekommen insbesondere durch Callum Thorpe als Leutnant Zuniga eine außerordentliche Qualität. Seine Basssprechstimme ist geradezu umwerfend. Von Herrn Thorpe würde ich mir auch das komplette Münchener Telefonbuch vorlesen lassen.

Ein Star des Abends hat seinen Arbeitsplatz eine Etage tiefer im Orchestergraben. Der musikalische Leiter Emmanuel Villaume dirigiert die Musiker unter Einsatz des gesamten Körpers – teils tanzend – als Vermittler zwischen Sängern und Orchester. Das Dirigat ist expressiv. Wie ein Marionettenspieler setzt der Maestro alle zehn Finger separat ein, fordert die Sänger heraus, die Arme gleiten elastisch-dynamisch durch den Raum. Diese unbändige Energie überträgt sich auf die Musiker, die dynamisch mit viel Spielfreude die berühmten Melodien in teils rasantem Tempo zelebrieren.

Die Inszenierung hat mittlerweile fast 30 Jahre auf dem Buckel und wirkt verglichen mit anderen Produktionen der Bayerischen Staatsoper ein wenig „Retro“. Ständiges Bühnenelement ist ein Hügel, der je nach Szene unterschiedlich geschmückt ist, mal als Piazza, als Zigarrenfabrik oder als Schmugglerfelsen. Die Farben der Kulisse sind – anders als die sonst gerne vorherrschenden Schwarz-, Grau und Metalltöne – in freundlichem Orange, Beige oder Braun gehalten. Angenehm antidepressiv ist neben den prachtvollen bunten Kostümen die Beleuchtung, die die Szenerie in strahlendes Tageslicht oder eine stimmungsvolle Dämmerung taucht. Das Bühnenbild regt nicht auf und lenkt nicht vom beeindruckenden Gesang der Solisten und des Staatsopernchores ab. Der Auftritt des Kinderchors ist übrigens den Corona-Regeln zum Opfer gefallen.

Die Atmosphäre im Nationaltheater ist unter den verschärften Pandemie-Bedingungen schon sehr speziell. In der Pause sind die Restaurants weiterhin gut besucht, durch das Foyer und die Säle flanieren jedoch nur vereinzelt maskierte Menschen. Zum Ende des zweiten und dritten Aktes beginnt man im Zuschauerraum ein wenig zu frösteln, fehlen doch die wärmenden Sitznachbarn. Von einer Musikerin im Orchestergraben erfahre ich, dass die Reaktionen des Publikums weiterhin die Akteure erreichen, wenn auch in einer deutlich reduzierten Dezibelstärke. Die Mitarbeiter der Staatsoper zeigen sich erleichtert, dass weitergespielt wird. Das Checken der Inzidenz wird bei ihnen zur morgendlichen Routine, hängt doch über allen das Damoklesschwert des kompletten Lockdowns, so die Neuinfektionsrate auf über 1000 Infizierte pro 100.000 Einwohner steigen sollte. Vorsichtiger Optimismus wird geäußert aufgrund aktuell langsam sinkender Zahlen.

Carmen, Foto: W. Hösl (c)

Münchens Corona-Carmen hat das dezimierte Publikum begeistert. Zwei Studenten, mit denen ich ins Gespräch komme, bezeichnen das Meisterwerk des Franzosen Bizet – der übrigens zu seinen Lebzeiten nie Spanien besucht hatte – nicht zu Unrecht als Pop-Oper. Die Sänger, Musiker und insbesondere Maestro Villaume werden frenetisch gefeiert mit Standing Ovations. Wenn man vorsichtig die Augen schließt, könnte man fast das Gefühl eines nahezu ausverkauften Saales haben. Hoffen wir, dass wir das ganz bald wieder erleben dürfen. Denn „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ (Friedrich Nietzsche).

Dr. Petra Spelzhaus, 26. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung Emmanuel Villaume
Nach einer Produktion von Lina Wertmüller
Bühne und Kostüme Enrico Job
Licht Franco Marri
Chor Stellario Fagone
Moralès Sean Michael Plumb
Don José Dmytro Popov
Escamillo Alexander Vinogradov
Dancaïro Jonas Hacker
Remendado Armando Elizondo
Frasquita Deanna Breiwick
Mercédès Emily Sierra
Carmen Varduhi Abrahamyan
Micaëla Rosa Feola
Zuniga Callum Thorpe
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper

Giuseppe Verdi, IL TROVATORE Nationaltheater München (Bayerische Staatsoper), 3. November 2021

Dr. Spelzhaus spezial 12, Der Ritt der Walküren klassik-begeistert.de

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