Foto: Elīna Garanča (Carmen), Piotr Beczała (Don José). Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 12. September 2022
Carmen
Musik von Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
Am Wiener Stehplatz herrscht wieder Normalzustand. Vorbei sind die Zeiten der Barhocker, stattdessen dichtes Gedrängel hinter den letzten Parkettreihen. Zurecht, denn Vorstellungen zum (stillen) Feiern und Mitfiebern stehen hier offenbar auf der Tagesordnung. Selbst der szenendominierende Sopranmangel kann im Haus am Ring keinen Fuß fassen!
von Johannes Karl Fischer
Sie fleht den Herren an, ihr Mut zu geben, für den Mann, den sie einst liebte. Es ist einer der offenen Fragen dieser Oper, ob „jadis“ (frz.: einst) nicht ein Vorwand ist und Micaëla immer noch in ihren José verliebt ist. Calixto Bieito scheint die affirmative Antwort vorzuziehen. Und Slávka Zámečníková ist da voll dabei: Was war das für ein himmlischer Gesang in ihrer Arie im dritten Akt!
Tiefgreifende Emotionen, die man in Worten allein nicht ausdrücken kann, strömen durchs Haus. Das, was man im Schauspiel nicht kommunizieren kann, die Antwort auf die Frage, warum diese Worte ohne Musik wertlos wären. Dieser Sopranistin steht hoffentlich noch eine große Karriere bevor!
Carmen ist eine Nebenrollenoper par excellence, trotzdem stand mit Maria Nazarova (Frasquita) noch eine Ausnahme-Sopranistin auf der Bühne. Im Gegensatz zu Micaëla findet sie sich in der sehr freien Gesellschaft sehr wohl zu Recht, spielt eine extrovertierte, abenteuerlustige spanische Schmugglerin.
Von dem allgemeinen Sopranmangel der Opernwelt ist hier nichts zu spüren, wo kommen denn bitte diese ganzen Ausnahme-Sängerinnen her? Naja, „Wien, Wien, nur du allein“ gilt wohl auch für die Staatsoper. Oder das Haus am Ring hat eine Nase für neue Stimmen, auch Michael Arivony in der Mini-Rolle des Dancaïre sang ebenso glasklare Melodien wie der weitaus erfahrenere Roberto Tagliavini als Escamillo. Der Stierkämpfer sang so stark, wie er – hinter der Bühne – wahrscheinlich die Bullen zerlegt.
Ganz ehrlich: Ich hatte Bedenken, ob Elīna Garančas eigentlich sehr runde, schöne Stimme zu dieser bissigen, ungezogenen Titelrolle passen könnte. Diese Zweifel waren vom ersten Ton an wie weggeblasen. Ihre Carmen ist frei, lässt sich von nichts und niemandem was sagen. Alle rennen hinter ihr her, alle scheitern an ihr. Don José versucht, sie an die Fahnenstange zu fesseln. Alles zwecklos, sie hat ihn mit ihrer voluminösen Stimme fest im Griff.
Die Königin der tiefen Lagen ist sie sowieso, auch die Spitzentöne füllen den Saal wie ein Tablett köstlicher, kunstvoll zubereiteter Desserts. Ihr Timbre wandelt zwischen warmen, liebevollen Arien und frechen, fast schon nasalen Einfällen, wenn sie Don Josés Liebe in Frage stellt. So singt eben die unangefochtene Göttin des Gesangs!
Piotr Beczała als Don José war da ordentlich gefordert, er musste kämpfen. Das gehört dazu, sonst wäre er weder Soldat noch Carmen-Liebhaber. Nach einem etwas holprigen Start – ausgerechnet in der lyrischen Arie „Parle-moi de ma mère“ wirkte er etwas unsicher – exponierte am Ende packende Wut, Eifersucht, das volle Programm eben. Genau das, was ein José braucht, sonst wäre er niemals in der Lage, sein Messer ins Herz seiner Geliebten zu stechen. Anscheinend hat ihn der Radamès zum Dramatiker gemacht.
Mit Feuer und Flamme stürzte Yves Abel das Haus in die Vorspiele, sorgte für fröhlich fanatische Stimmung im Publikum. Da spielt ihm die Inszenierung in die Hände, der Chor hopste auf der Bühne wie ein Haufen feiernder Fußball-Fans. Am liebsten würde man mitsingen und mittanzen, aber wir sind in der Oper, nicht im Stadion. Das ist auch gut so, so bleibt die wahre Kunst wenigstens den Profis überlassen…
Am Vortag wurde ich Zeuge eines seltenen Ereignisses, denn ein paar Dutzend Opernfans – vor allem am Galerie-Stehplatz – wollten für Netrebko und Co. einfach nicht aufhören zu klatschen. Nach dem vierten Mal habe ich aufgehört zu zählen, wie oft die Bohème-Besetzung nochmal vor den Vorhang getreten ist, erst nach 20 Minuten (bei einer Repertoire-Vorstellung!) verließen die letzten ZuschauerInnen den Saal. So einen Applaus hätte diese Carmen auch verdient!
In 6 Tagen steht Carmen auch in Hamburg auf dem Spielplan – als etwas späte Saisoneröffnungspremiere. Hoffentlich nutzen sie die vielen extra Tage – fast zwei Wochen im Vergleich zu Wien – um nochmal fleißig zu proben. Wien hat die Latte hoch – sehr hoch – gelegt, da steht man am Gänsemarkt vor einer fast unlösbaren Mammut-Aufgabe…
Johannes Karl Fischer, 13. September 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Georges Bizet, Carmen, Bayerische Staatsoper, 24. November 2021