Fotos: © Hans Jörg Michel
Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2020
Giacomo Puccini, La Bohème (73. Vorstellung seit der Premiere am 5. November 2006)
von Guido Marquardt
Das Bühnenbild trägt die gelungene Inszenierung von Puccinis Meisterwerk, die musikalischen Leistungen sind insgesamt erfreulich. Vor allem Celine Byrne als Mimi und Mariam Battistelli als Musetta wissen zu gefallen, während Stephen Costello zu Beginn schwächelte und sich steigern musste, um das gleiche Niveau zu erreichen.
Seit mehr als 100 Jahren gehört „La Bohème“ zu den erfolgreichsten und meistgespielten Opern überhaupt. Allein die aktuelle Hamburger Inszenierung wurde seit ihrer Premiere im November 2006 bereits 73 Mal aufgeführt – und es spricht wenig dafür, dass Puccinis Klassiker sobald aus der Mode kommen wird. Das hat sicherlich mit der Zeitlosigkeit des Stoffs zu tun, einer Mischung aus tragischer Liebesgeschichte und Sozialdrama mit bittersüßen Zwischenpointen. Und mit Puccinis durchdachter Figurengestaltung, die den Charakteren Tiefe und Ambivalenzen gibt. Vor allem aber mit der homogenen musikalischen Struktur dieses durchkomponierten Meisterwerks zwischen Romantik, Verismo und muskalischer Moderne.
Künstlerisches Prekariat am Rande der Kolportage
Die lose Künstler-WG aus Rodolfo (Dichter), Marcello (Maler), Schaunard (Musiker) und Colline (Philosoph) schlägt sich durch, stets am Rande des Existenzminimums und künstlerisch letztlich bedeutender in ihren Bemühungen, das eigene Überleben zu sichern als in tatsächlich bleibenden Werken. Ihre Schicksale kreuzen sich mit zwei Frauenfiguren, der unsteten und lebenslustigen, im Kern tief verunsicherten Musetta und der reinherzigen, todkranken Mimi. Rodolfo und Mimi werden ein Paar, dessen Glück nur kurz währt und am stärksten lodert, als Mimi stirbt. So weit, so deprimierend. Hier keinen Kolportage-Kitsch zu fabrizieren, war Puccinis Anspruch, den er musikalisch und textlich souverän einlöste, mit textlicher Unterstützung von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica.
Vom Puppen- zum Abbruchhaus
In der Inszenierung kann man natürlich nach dem Motto „mehr vom Gleichen“ verfahren und in die grelle Überzeichnung oder das historisierende Elendsklischee driften. Man kann auch die Psychologisierung der Figuren in den Blickpunkt stellen und den Kontext komplett abstrahieren. Guy Joosten entschied sich vor knapp 15 Jahren für einen wohldurchdachten Mittelweg:
Sehen wir im ersten Bild eine Art lebendigen Setzkasten, ein kleines Panoptikum des kleinstbürgerlichen Prekariats in einem überdimensionalen Puppenhaus, schwenkt die Szenerie im zweiten Bild dann zu einer monströsen Weihnachts-Bar als zugleich verschwenderische wie beengte Weihnachtsfeier-Amüsierhölle. Außerordentlich bedrückend das dritte Bild, wo die Zollschranke als Gewerbegebiets-Ödnis im Hinterhof eines deprimierenden Unterhaltungsbetriebs in bitterster Winterkälte daherkommt – bevor schließlich im vierten Bild wieder der Setzkasten aus dem ersten Bild zurückkehrt, allerdings mit einer entscheidenden Schraubendrehung weiter: Aus dem einfachen Miets- ist ein Abbruchhaus geworden, das Prekariat ist endgültig abgestürzt, das tragische Ende unausweichlich.
Gut funktionierendes Bühnenbild mit dem Zeug zum Klassiker
Kern von Joostens Regiekonzept ist offensichtlich das Bühnenbild (verantwortlich hierfür: Johannes Leiacker), das atemberaubend gut funktioniert, alle Dimensionen eindrucksvoll ausnutzt und zugleich stets unterstützend für die Darstellerinnen und Darsteller wirkt, mit ebenso elegant fließenden wie logisch angesetzten Übergängen. Wir sehen Figuren in einer nicht exakt verorteten Gegenwart, sie kommen uns nah, ohne sich ranzuschmeißen. Kurz: Die Inszenierung hat das Zeug, noch lange Zeit zu laufen und dabei vielleicht sogar den bisherigen Hamburger Rekordhalter abzulösen, nämlich Joachim Hess‘ Arbeit von 1967, die es in mehr als 30 Jahren auf stolze 183 Aufführungen gebracht hat.
Kräftige Mittellage, oben etwas eng
Den Rodolfo der Premiere gab 1967 übrigens ein gewisser Plácido Domingo, was uns direkt zu den sängerischen Leistungen des Jahres 2020 führt. Stephen Costello gibt den Rodolfo. Er tut das in einer Anlage, die deutlich näher am Heldentenor als an einer lyrischen Interpretation ist. Da fehlt es im piano doch gelegentlich am Sentiment. Fraglos kann Costello immer wieder mit seiner Kraft beeindrucken, vor allem in den Mittellagen. Oben wird seine Stimme allerdings häufiger etwas eng. Eine leise Enttäuschung ist dabei vor allem das berühmte „Che gelida manina“ im ersten Bild: Die Arie wird nicht um einen Halbton nach unten transponiert. Wunderbar, nur dann muss der Tenor eben auch liefern. Das hohe C in „La Speranza“ wackelt jedoch arg und vielleicht ist es tatsächlich eine gnädige Fügung, dass das Orchester diesen Moment eher zudeckt als begleitet. Deutlich besser wird es dann in den Duettszenen mit Mimi, und überhaupt hat man den Eindruck, dass Costello sich nach dem erwarteten Höhepunkt kontinuierlich zu steigern vermag.
Perfekt ausbalanciert
Die Irin Celine Byrne gibt an diesem Abend eine großartige Mimi. Ihr Sopran ist strahlend schön, mit einem feinen, an keiner Stelle aufgesetzt wirkenden Vibrato und einer perfekt ausbalancierten Gratwanderung zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit. Die Rolle fordert eine Schönheit und Poesie aus dem Innersten ihrer Seele, sie macht darum viel weniger und vor allem nicht so gedrechselte Worte wie Rodolfo – Celine Byrne verkörpert das an diesem Abend absolut überzeugend. Zur Weltklasse fehlt möglicherweise nur ein kleiner weiterer Schritt ins vollkommene Sich-Fallen-Lassen, da bemerkt man gelegentlich doch den unbedingten Willen der Sängerin, jederzeit die Kontrolle zu behalten.
Pointiert und verblassend
Als Musetta glänzt Mariam Battistelli mit ihrer körperlich und stimmlich gleichermaßen einnehmenden und pointiert divenhaften Erscheinung. Großartig!
Nicht mithalten kann da Alexey Bogdanchikovs Marcello. Zum wiederholten Male startet der Hamburger Hausbariton recht gut in den Abend, um dann zunehmend zu verblassen, vor allem in den Ensembleszenen.
Grundsolide und verlässlich
Ganz auf der komödiantischen Seite angelegt ist der Schaunard, den Shin Yeo grundsolide und mit verlässlicher Stimmkraft gibt. Auch Alexander Roslavets steuert seinen Bass als Colline sicher durch den Abend.
Bei den kleineren Rollen und den Chören gibt es keine nennenswerten Auffälligkeiten – was keine Kritik sein soll; die Parts sind einfach nicht für großes Brillieren ausgelegt.
Scharfe Konturen, fehlende Dynamik
Pier Giorgio Morandi leitet das Orchester sicher. Er setzt eher auf schärfere Konturen, übertreibt es jedoch gelegentlich mit der Lautstärke und reizt so weder die dynamische Bandbreite der Partitur voll aus, noch kann man ihm eine makellose Sängerfreundlichkeit attestieren.
Es bleibt ein Rest an Distanz
Schauspielerisch sind durchweg gute Leistungen zu erleben, doch am Ende bleibt ein wenig zu viel an professioneller Distanz. Bis auf Mariam Battistelli erwecken alle anderen auf der Bühne den Eindruck, immer noch eine kleine Reserve übrig zu lassen. Das tut am Ende dann auch das Publikum, das zwar starken bis sehr starken Beifall spendet, echte Ovationen aber ebensowenig sehen und hören lässt wie eine wirkliche Ergriffenheit. Unter dem Strich bleibt aber eine künstlerisch gelungene Leistung in einer sehenswerten Inszenierung, in der zwei starke Sängerinnen den Rest des Ensembles nach oben ziehen.
Guido Marquardt, 5. Januar 2020,
für klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Pier Giorgio Morandi
Inszenierung: Guy Joosten
Bühnenbild: Johannes Leiacker
Kostüme: Jorge Jara
Licht: Davy Cunningham
Choreografie: Andrew George
Chor: Christian Günther
Alsterspatzen: Christian Günther
Spielleitung: Petra Müller
Rodolfo: Stephen Costello
Schaunard: Shin Yeo
Marcello: Alexey Bogdanchikov
Colline: Alexander Roslavets
Benoît: Martin Summer
Mimi: Celine Byrne
Musetta: Mariam Battistelli
Parpignol: Hiroshi Amako
Alcindoro: Hubert Kowalczyk
Un Buttafuori: Peter John Bouwer
Un Cliente: Michael Reder
Due Carabinieri: Julius Vecsey, Michael Kunze
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Kinderchor Alsterspatzen
Philharmonisches Staatsorchester