Foto: © Jörn Kipping, Elena Zhidkova (mit Bildern der älteren Veranstaltungsserie)
Staatsoper Hamburg, 26. Mai 2019
Giuseppe Verdi, Don Carlos
(44. Vorstellung seit der Premiere am 4. November 2001)
von Guido Marquardt
„Jetzt, da alles vorbei ist, … jetzt weint ihr?“ – „Ja, aus Bewunderung.“ Diese Librettopassage aus dem fünften und letzten Akt, aus einem Duett zwischen Don Carlos und Elisabeth, sie könnte auch als Fazit zu dieser kolossalen Aufführung stehen. Fünf Stunden pures Opernglück gehen zu Ende, und es ist wenig zu finden, das dieses Glück trüben könnte.
Es gehörte zu den prägenden Charakteristika von Ingo Metzmachers GMD-Zeit in Hamburg, dass er sich grundsätzlich besonders begeistert auf die etwas sperrigeren Stoffe stürzte und es immer wieder verstand, seinen Enthusiasmus als Samen der Neugier beim Publikum einzupflanzen. Tat er sich dafür mit seinem Lieblingsregisseur Peter Konwitschny zusammen, konnten legendäre Inszenierungen entstehen. Nun könnte man natürlich fragen, inwiefern denn eine Verdi-Oper als sperrig bezeichnet werden kann. Doch tatsächlich enthält der „Don Carlos“ vergleichsweise wenig typischen Italianità-Stoff – und schon mal gleich gar nicht in der fünfaktigen Urfassung in französischer Sprache, die mit dieser Inszenierung im Jahre 2001 denn auch tatsächlich ihre Hamburg-Premiere feiern durfte. Diese ist im Stile einer Grand Opéra konzipiert und komponiert. Wobei es einen Teil ihres Reizes ausmacht, dass Verdi mit dieser Form etwas fremdelte. Dazu gleich mehr.
Dass diese Fassung mittlerweile der kürzeren italienischen Version den Rang abgelaufen hat, ist kein Zufall – die innere Handlungslogik ist sehr viel schlüssiger, und auch musikalisch hat dieser Fünfakter keinerlei Hänger. Vielmehr zeichnet sich das Werk durch eine große Fülle an Duetten und Terzetten (und natürlich auch ein paar Solo-Arien, Quartette und Gesänge mit Chor) aus, in denen sich die komplexen Beziehungen zwischen den Personen sorgfältig entwickelt darstellen.
Die Inszenierung von Peter Konwitschny hat seinerzeit einige Furore gemacht – in Hamburg und auch in Wien, wo sie adaptiert wurde. Sie ist eigentlich reduziert, fokussiert und konzentriert auf das handelnde Personal (zumeist doch recht konventionell „von der Rampe singend“, obwohl es viele Dialogszenen gibt). Das Bühnenbild wird, abgesehen vom einleitenden Fontainebleau-Akt, von hermetischen, hellen Wänden dominiert, in denen sich eine große Anzahl niedriger Türen befindet, die alle Darsteller dazu nötigt, sich beim Kommen und Gehen zu bücken. Ja, sie haben alle ihr Bündel zu tragen … Nur ganz am Ende, bei der Rettung von Carlos und Elisabeth durch den zum Mönch gewordenen Karl V, öffnet sich eine der Türen buchstäblich bis zum Himmel, der helle Lichtschein verheißt Erlösung.
Doch zurück zum „eigentlich“: Es gibt zwei Ausnahmen von der Reduktion. Eine ist die Ballett-Szene. Zu einer Grand Opéra gehörte seinerzeit zwingend ein Ballett. Üblicherweise ist es für die Handlung und das Verständnis absolut verzichtbar. Doch um so mehr eignet es sich ja dafür, einen besonderen Akzent zu setzen. Und das gelingt hier, auch ohne dass John Neumeiers Truppe einen Einsatz bekäme. Stattdessen ist dieses Intermezzo als „Ebolis Traum“ gestaltet, und dieser spielt sich als turbulentes Spießer-Idyll im 20. Jahrhundert ab.
Eboli nimmt ihren Gatten, möglicherweise gerade frisch entlassen, zu Hause in Empfang, in einer Wohnungskulisse irgendwo zwischen den Familien Hesselbach und Drombusch. Die Schwiegereltern kommen zu Besuch, und den verkohlten Gänsebraten muss eiligst beschaffte Pizza vom Lieferdienst retten. Es ist eine stumme Slapstick-Performance, die zwei Darstellerpaare in bester Spiellaune zeigt und die mitreißende Musik mit überdrehten, aber niemals lächerlichen Kabinettstückchen begleitet. Eine Choreographie vor einem Setting, das letztlich auch die Zuschauer mit ihren eigenen gedanklichen Transfers konfrontiert, die sie wohl gelegentlich beim Durchspielen der operntypischen Figurenkonstellationen anstellen mögen. Natürlich bleibt es dabei, dass diese Balletteinlage keine Notwendigkeit für die Gesamtoper in sich trägt, aber allein um die großartige Verdi-Komposition schon wäre es schade gewesen, wäre sie gestrichen worden. Zumal man der Musik anmerkt, dass Verdi sich einen kleinen Spaß daraus machte, parodistische Effekte einzubauen – das war wohl seine Art, mit einer zweifelhaften formalisierten Mode umzugehen.
Der zweite Bruch innerhalb dieser Inszenierung ist noch deutlich markanter: Die Autodafé-Szene wird ausgedehnt auf Zuschauerränge und Foyers. Während der vorangehenden Pause bettet sich das Ganze ein in den Höhepunkt von Festivitäten, die die Ankunft des Königspaares in Hamburg ins Zentrum stellen. Das ist (von einigen offenbar unvermeidlichen Journalisten-Klischees abgesehen) geschickt multimedial inszeniert und überzeugend umgesetzt. Eine Blechbläser-Abordnung, die aus dem Foyer (und später in den Gängen) in perfektem Timing mit dem übrigen Orchester kommuniziert, liefert auch akustisch ein völlig neues Erleben. Und wenn die Reporterin, am Tage der tatsächlichen Europawahl, nun „ganz Europa auf Hamburg“ schauen lässt und in schauriger Aufgekratztheit die Ketzerverbrennung als Highlight von Promi-Auflauf und festlichen Aktivitäten ankündigt, ist man durchaus ein ganzes Stück entfernt von einem distanzierten Blick auf ein Spanisches Reich in Zeiten der Inquisition.
Nun muss man allerdings auch sagen, dass diese beiden auffälligen Brüche und zeitlichen Sprünge letztlich wenig Rückkopplung zum übrigen Geschehen bieten. Sie stehen da als durchdachte und in sich stimmige Ausbrüche, aber lassen sie das gesamte Werk in neuem Licht dastehen? Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass es hier doch (auch) darum ging, die lange Wegstrecke dieses Opernabends einfach etwas aufzulockern. Zumindest das ist zweifellos geglückt.
Die Orchestermusik ist insgesamt an diesem Abend gut gelungen. Pier Giorgio Morandi bewältigt das enorme Pensum mit einem sehr kraftvollen Ansatz, auch hier bemüht darum, zu keinem Zeitpunkt die Spannung absinken zu lassen. Insbesondere die Streicher sind in sehr guter Form. Und wenn die Blechbläser das Unheil des herannahenden Großinquisitors verkünden, versteht auch der Letzte, was eigentlich mit „wohligem Schauern“ gemeint ist. Allerdings ist an einigen Stellen die Lautstärke nicht gerade sängerfreundlich dosiert und deckt die eine oder andere stimmliche Leistung ein wenig zu.
Der Chor ist eher ein wenig blass, angesichts der gewaltigen Solo-Stimmen tritt er doch sehr in den Hintergrund. Man muss ihm allerdings zugutehalten, dass er häufiger aus der Kulisse heraus singen muss.
Und wie steht es nun um die Solisten? Pavel Cernoch gibt einen sehr starken Don Carlos. Zwischenzeitlich gerät man etwas in Sorge, weil er sehr viel Kraft zu investieren scheint, aber gerade im höheren Register ist er aus dem Stand wiederholt in der Lage, alles zu mobilisieren, was es braucht. Sein Timbre mag nicht unbedingt warm sein, er ist vielleicht nicht der typische Belcanto-Tenor – vielmehr trägt sein Carlos ein bisschen was passend „Schmutziges“ an sich. Auch seine jeweilige Passung in den Duetten und weiteren mehrstimmigen Gesängen ist tadellos, hier gibt es insbesondere mit Elisabeth und Rodrigue wunderbare Szenen.
Alexey Bogdanchikov hat als Rodrigue vielleicht am meisten unter dem gelegentlich überlauten Orchester zu leiden. Vielleicht ist er an diesem Abend unter den Solisten auch derjenige, der vergleichsweise etwas weniger dynamisch moduliert und so ein bisschen eindimensionaler ankommt. Aber unter dem Strich ist auch er eine sehr gute Bariton-Besetzung und kann stolz darauf sein, in diesem Gaststar-Lineup als Ensemblemitglied voll mitzuhalten. Besonders sein „Freundschafts-Duett“ mit Don Carlos („Dieu, tu semas dans nos âmes“), dessen Orchestermotiv mehrfach wieder zitiert wird, überzeugt auf ganzer Linie.
Die Rolle des Philippe II bringt ihren Sänger erst recht spät in den Blickpunkt. Das ist sicherlich nicht einfach, aber Gábor Betz bewältigt es wunderbar. Sein Bass strahlt insbesondere in den mittleren Lagen und bringt den dunklen Diamanten dieses immer einsameren Bösewichts schön zum Funkeln. „Elle ne m’aime pas!“ klagt er am Beginn des vierten Akts – in diese einsame Verzweiflung und den anschließenden Besuch des Großinquisitors hat die Inszenierung sehr schlüssig als stummen Zaungast die ehebrecherische Eboli eingebaut.
An diesem Abend allerdings überstrahlen die Sangesleisten der Leading Ladies dieses Werks die der Herren doch noch ein Stück. Elena Zhidkova befindet sich offenkundig im Zenit ihres Könnens. Beginnend mit den Koloraturen ihres ersten Auftritts im „Chanson du voile“ beherrscht sie ihren Part souverän, singt absolut strahlend und glockenklar und bringt ihren Mezzosopran auch im höheren Register mit einer Mühelosigkeit und Klangschönheit zum Strahlen, wie es so manche Sopranistinnen niemals vermögen. Das ist Weltklasseniveau in ergreifender Darbietung, fantastisch!
Lianna Haroutounians Weg ist vermutlich noch gar nicht auf dem Gipfelpunkt angelangt. Mit ihrer Elisabeth konzentrierte sie sich am Anfang auf Präzision und gutes Handwerk. Dagegen ist nichts zu sagen – vor allem, wenn dann noch mal Steigerungen folgen und man im fünften Akt, nach annähernd fünf Stunden Aufführungsdauer, nur noch mit offenem Mund dasitzt und nicht weiß, ob nun die Verblüffung, die Rührung oder die schiere Begeisterung überwiegen, wenn Haroutounian mit kristallklarer, voluminöser(!) Sopranstimme noch Spitzentöne aus sich herausholt, die schon so mancher „Königin der Nacht“ in ihrem Kurzauftritt weit weniger brillant gelungen sind. Beinahe möchte man aufspringen, wenn sie singt, „Du hast die Nichtigkeit der irdischen Größe erkannt“ und widersprechen – wie kann es sein, wenn eine irdische Stimme so etwas auf die Bühne zaubert?
Unter den übrigen Sängern sind natürlich Ensemblemitglied Alin Anca als Mönch/Karl V sowie Luigi De Donato als Großinquisitor zu nennen. Beide zeigen die zwei Seiten der Bass-Medaille: gütige Autorität mit warmer Färbung bei Anca, dröhnende Macht mit stetiger Drohgebärde bei De Donato. Die weiteren Nebenrollen fügen sich gut ins Geschehen ein.
Fazit: Die Inszenierung trägt noch keine Patina und bietet allemal Ansatzpunkte für Diskussionen, das Orchester agiert ein kleines bisschen übermotiviert, und die Hauptrollen, insbesondere die weiblichen, sorgen für sängerische Sternstunden in Hamburg.
Guido Marquardt, 27. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Pier Giorgio Morandi
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühnenbild und Kostüme: Johannes Leiacker
Licht: Hans Tolstede
Dramaturgie: Werner Hintze
Chor: Eberhard Friedrich
Philippe II: Gábor Bretz
Don Carlos: Pavel Cernoch
Rodrigue Marquis de Posa: Alexey Bogdanchikov
Le Grand Inquisiteur: Luigi De Donato
Un Moine (Charles V): Alin Anca
Elisabeth de Valois: Lianna Haroutounian
La Princesse d’Eboli: Elena Zhidkova
Thibault: Gabriele Rossmanith
Le Comte de Lerme / Un Héraut: Hiroshi Amako
Une Voix céleste: Na’ama Shulman
La Comtesse d’Aremberg: Corinna Meyer-Esche
Un Bûcheron: Andreas Kuppertz
Six Députés flamands I: Eun-Seok Jang
Six Députés flamands II: Michael Kunze
Six Députés flamands III: Manos Kia
Six Députés flamands IV: Julius Vecsey
Six Députés flamands V: Peter Veit
Six Députés flamands VI: Bernhard Weindorf
Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper
Alsterspatzen – Kinderchor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester
„Jetzt, da alles vorbei ist, … jetzt weint ihr?“ – „Ja, aus Bewunderung.“ Diese Librettopassage aus dem fünften und letzten Akt, aus einem Duett zwischen Don Carlos und Elisabeth, sie könnte auch als Fazit zu dieser kolossalen Aufführung stehen.
Lese ich da oben. Wird die Oper gar auf Deutsch gesungen?
In Wien war es auf Französisch.
Fred Keller
Lieber Herr Keller,
gesungen wurde selbstverständlich auf Französisch. Die deutschen Obertitel haben es dem Rezensenten freilich leichter gemacht, dem Libretto zu folgen. Und ich war jetzt nicht davon ausgegangen, dass „Klassik begeistert“-Leserinnen und -Leser wie selbstverständlich Sätze aus dem Original verstehen. („Lorsque tout est fini, quand ma main se retire de vos mains … vous pleurez?“ – „Oui, mais je vous admire …“)
Herzliche Grüße
Guido Marquardt
Vielen Dank für die ausführliche Kritik. Ich werde am kommenden Sonntag dabei sein und freue mich auf einen tollen Opernabend.
Berthold Knicker
Man sollte vielleicht darauf hinweisen, dass es sich bei den Aufführungsfotos nicht um die Sängerinnen und Sänger der jetzigen (hervorragenden) Aufführungsserie handelt.
Ralf Wegner
Berechtigter Einwurf – danke für den Hinweis, lieber Herr Wegner.
(Zur Erklärung: Die Fotos werden üblicherweise nicht durch die Autoren erstellt. Fotografieren ist in Repertoirevorstellungen nicht üblich; mal abgesehen von den technischen und handwerklichen Fähigkeiten.)
Guido Marquardt