ES FLIEGEN DIE FETZEN! VERDIS MESSA DA REQUIEM IN DER STAATSOPER HAMBURG

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem,  Staatsoper Hamburg

Foto: Foto: Brinkhoff/Mögenburg (c)
Staatsoper Hamburg
, 8. Januar 2019
Giuseppe Verdi: Messa da Requiem

von Dr. Holger Voigt

Als Giacchino Rossini am 13. November 1868 verstarb, hatte Giuseppe Verdi die Idee, ihn mit einer eigens zu komponierenden Totenmesse zu ehren. An der Realisierung dieser Idee sollten sich namhafte zeitgenössische Komponisten beteiligen, so dass auf diese Weise ein Gemeinschaftswerk zustande käme. Die Messe sollte am ersten Jahrestag von Rossinis Tod in Bologna uraufgeführt werden. Tatsächlich beteiligten sich neben Verdi 13 weitere Komponisten an dem Projekt einer Messa per Rossini. Die Messe wurde im September 1869 fertiggestellt, doch kam es nie zu einer vollständigen Uraufführung in Bologna, wo Rossini gelebt und studiert hatte. Grund dafür waren Abstimmungsprobleme und Querelen bezüglich der Kostenverteilung sowie die Tatsache, dass in Pesaro, der Geburtststadt Rossinis, bereits eine eigene Gedenkfeier mit Aufführung von Rossinis „Stabat Mater“ stattgefunden hatte, was Verdi als Affront betrachtete.

In der Folge zogen mehrere Komponisten ihre fertiggestellten kompositorischen Anteile zurück, um sie in eigenen Werken zu verarbeiten. Auch Verdi legte das Projekt zunächst zur Seite, bis er – veranlasst durch den Tod des von ihm sehr verehrten Dichters Alessandro Manzoni am 22. Mai 1873 – sich erneut mit der Idee einer Totenmesse beschäftigte und das bereits vorhandene Material zu einem Requiem für Manzoni weiterentwickelte. Aus diesem wurde schließlich die heute bekannte Messa da Requiem, aus der der Name Manzonis verschwand. Die ursprünglich bereits fertiggestellte Messa per Rossini kam sehr viel später dennoch zu einer vollständigen Uraufführung im Jahr 1988 mit der Gächinger Kantorei Stuttgart unter der Leitung von Helmuth Rilling. Die Uraufführung der Messa da Requiem selbst fand – wie geplant – am 22. Mai 1874, dem ersten Todestag Manzonis, in der Kirche San Marco in Mailand statt. Seither wird die Messa da Requiem auch als Verdi-Requiem bezeichnet.

Wenn man sich die Frage stellt, warum die Messa da Requiem eine so außergewöhnliche Stellung in der Musikliteratur einnimmt, sollte man in erster Linie zunächst der musikalischen Ausdruckssprache folgen. Der katholisch-liturgische Ductus ist – auch textlich – weitgehend feststehend, aber seine musikalische Expression sprengt in diesem Werk alle Grenzen. Der wohl profundeste Verdi-Kenner, der italienische Dirigent Riccardo Muti, betonte in Hinblick auf die dem Werk innewohnende Kraft, dass es von vorrangiger Bedeutung sei zu verstehen, wie die Menschen in Italien (insbesondere in den südlicheren Landesteilen) mit Gott kommunizieren: Sie beten und bitten nicht um Frieden und Erlösung, sondern fordern dieses ein! Sie ermahnen Gott: Herr, Du hast uns hier auf die Welt gebracht, also zeige nun auch Deine Verantwortung uns gegenüber und gebe uns Frieden und Erlösung!

Kann das wirklich gut gehen? Ein Disput mit Gott, Zorn auf Zorn, Leid und Verzweiflung, Aufschrei und Forderung – fast wie eine Anklage? Sopran und Chor singen am Schluss des Werkes „Libera Me“ dreimal unmittelbar hintereinander: Das erste Mal voller Verzweiflung, das zweite Mal voller Zorn, das dritte Mal in völliger Hoffnungslosigkeit. Wie wird Gott darauf antworten? Wird er überhaupt antworten? Das ganze Werk handelt schlussendlich nur von dieser einen Frage. Es ist für das Werksverständnis sehr bezeichnend, dass die Antwort offen bleibt und es in herkömmlichem Sinne kein Ende gibt: Der letzte Ton verdämmert in der Unendlichkeit, nachdem der Chor in seinem „Me“ des „Libera Me“ dieses im Pianissimo lang anhaltend ausklingen lässt. Und dann ist da nur noch Stille. Bedrückende Stille.

Die Messa da Requiem ist also ein düsteres Werk, auch wenn die Musik von einer solchen Schönheit ist, dass sie jeden zutiefst anrührt. Auch Rossini war ja nachgesagt worden, die Schönheit der Musik seines „Stabat Mater“ sei dem traurigen Anlass nicht angemessen. Warum also das Nebeneinander dieser Extreme? Verdi zeigt in seiner kompositorischen Konzeption das alles Übersteigende der Allmacht Gottes in einer musikalischen Dramatik, die ihresgleichen sucht. In einer epochalen Aufführung vom Oktober 2013 in Chicago mit dem Chicago Symphony Orchestra (CSO) unter der Leitung von Riccardo Muti (https://youtu.be/SN5_ipXZi9M), die seinerzeit im Live-Stream in alle Welt übertragen wurde, wird deutlich, dass es sich hier um einen Disput mit Gott handelt – es „fliegen die Fetzen!“. Es ist ein nicht enden wollender Aufschrei der Kreatur angesichts von Leid und Verzweiflung.

Auf der anderen Seite ist die kompositorische Behandlung der Singstimmen und der Orchestrierung zumindest opernähnlich. Immer wieder entwickeln sich die wunderbarsten Melodieschöpfungen zu ariosen Höhepunkten, die jeweils fast mit einer Stretta enden, so dass man versucht ist, Solistenapplaus zu spenden. Aber auch der Chor hat durchgehend dramatische und kommentierende Qualitäten, die erst den Boden für die Solistenstimmen bereiten. All das sieht nach Oper aus, und es wird demgemäß ironisierend auch oft von Verdis „bester Oper“ gesprochen.

Aus dem Voranstehenden geht hervor, dass die Messa da Requiem geradezu nach einer dramatischen Inszenierung verlangt! Wer die Musik hört, sieht alles vor Augen, was sonst in einer liturgischen Chiffrierung verschwindet. Es ist dem Bestreben des Regieteams um Calixto Bieito und der Leitung der Hamburgischen Staatsoper zu verdanken, ein derartiges Projekt überhaupt auf die Beine gestellt zu haben. Das ist durchaus keine leichte Aufgabenstellung. Zwischen Oratorium und Oper, ohne Gefahr zu laufen, als Ballett oder gar Musical missverstanden zu werden, musste eine szenische Dramaturgie konzipiert werden, die eine eigenständige Dimension künstlerischer Expression darstellen kann. Diese benötigt auch keine terminolgische Festlegung mehr, da sie alle Elemente künstlerischen Ausdrucks einbindet.

So wie jede Inszenierung nur eine von vielen Möglichkeiten des Zugangsweges zum künstlerischen Kern darstellt, und es eine allgemeingültige Deutung niemals geben kann, wird jeder etwas Anderes sehen und empfinden, wobei es lediglich auf die im Betrachter entstehende emotionale Resonanz ankommt. Auch dem Christentum fernstehende Menschen werden in gleicher Weise gepackt, ergriffen und aufgewühlt. Es geht um die fundamentale Frage der menschlichen Existenz an sich.

Die Hamburger Inszenierung von Calixto Bieito kann als meisterhaft konzipiert und vollumfänglich gelungen bezeichnet werden. Bei etwas weniger als zwei Stunden Spielzeit verschlägt es einem unablässig den Atem. Es beginnt nach einer Vorszene mit einem grandiosen Bühnenbild (Susanne Gschwender), das sich im Kern perspektivisch wandelt und dabei unterschiedliche Einblicke eröffnet. Auch dient die kastenförmige Gerüststruktur als motorischer Ausdrucksraum der Protagonisten des Werkes. Der gesamte Bühnenraum wird unablässig vollständig ausgenutzt, wobei unzählige Details dramatischer Elemente sichtbar werden. Fetzenartige visuelle Remineszenzen – fast wie Rückbezüge auf Erlebtes oder Ausdrucksformen von Jugend und Alter – erhalten eine figürliche Darstellung, beinahe wie in einem „Wimmelbild“.

Alles ständig eingebettet in die Omnipräsenz des Chores, wobei bisweilen unglaublich beeindruckende Szenenbilder entstehen – fast wie Gemälde imponierend, denen es an Dramatik nicht mangelt. Dabei scheint die mächtige, alles beherrschende Kastenkonstruktion in unterschiedlichen Projektionen und unter Öffnung veränderlicher Bewegungsräume bei unveränderlicher Kastendimension darauf hinweisen zu wollen, dass alle Menschen am Ende des Tages – also im Moment des Sterbens – unterschiedslos gleich sind.

Die Messa da Requiem ist ganz überwiegend getragen vom Chor. Der von Eberhard Friedrich hervorragend eingestellte Chor der Hamburgischen Staatsoper war eine wahre Sensation, agierte er doch mit äußerster Präzision gepaart mit unglaublicher Spielfreude. Was für eine Dramatik der Bilder, die in Erinnerung bleiben werden: die hochgereckten Arme der Menschen, die nach Frieden und Erlösung verlangen!

Die vier Gesangssolisten (Sopran: Maria Bengtsson, Mezzosopran: Nadezhda Karyazina, Tenor: Dmytro Popov, Bass: Gábor Bretz), die sich aus dem Chor heraus als Protagonisten hervorschälen, waren stimmlich in hervorragender Verfassung und zeigten in ihren Partien oft wunderschön belcanteske Ausgestaltungen. Sie agierten äußerst ausdrucksstark, was besonders angesichts der dramaturgischen Aufgabenstellungen außerordentlich schwierig war, aber allen sehr gut gelang.

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der souveränen Leitung des in diesem Werk hier debütierenden Italieners Paolo Arrivabeni war den dynamischen Herausforderungen der Partitur in bestechender Weise gewachsen und glänzte mit einem anrührenden Schönklang, der geradezu Italienisch imponierte. In den dramatischen Steigerungen gab es keinerlei Fehler und sichere Klangfarben. Besonders bei diesem Werk ist es nicht eben leicht, Orchester, Chor, Solisten und auch noch Fernbläser akkurat auf den Punkt zusammenzuhalten – aber Maestro Arrivabeni gelang dieses sehr überzeugend.

Ich habe das Hamburger Verdi-Requiem zweimalig gesehen – einmal aus dem Parkett, einmal vom Rang aus. Beide Male hat sich mir ein bleibender Eindruck eingeprägt: Es ist eine beeindruckende Produktion, die unter die Haut geht! Ich freue mich riesig für alle Mitwirkenden und Beteiligten, dass sie hier Großartiges auf die Bühne gebracht haben. Bravi! Und natürlich: Viva Verdi!

Dr. Holger Voigt, 10. Januar 2018, für
klassik-begeistert.de

Inszenierung: Calixto Bieito
Bühne: Susanne Gschwender
Kostüme: Anja Rabes
Licht: Franck Evin
Dramaturgie: Janina Zell

Musikalische Leitung: Paolo Arrivabeni
Chor: Eberhard Friedrich
Sopran: Maria Bengtsson
Mezzosopran: Nadezhda Karyazina
Tenor: Dmytro Popov
Bass: Gábor Bretz
Orchester: Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Chor: Chor der Hamburgischen Staatsoper

 

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