Foto: © Bregenzer Festspiele / Anja Köhler
Giuseppe Verdi, Rigoletto
Bregenzer Festspiele, 17. Juli 2019
Musikalische Leitung: Enrique Mazzola
Inszenierung: Philipp Stölzl
Bühne: Philipp Stölzl, Heike Vollmer
Chorleitung: Lukas Vasilek, Benjamin Lack
Kostüme: Kathi Maurer
Der Herzog von Mantua: Stephen Costello
Rigoletto: Vladimir Stoyanov
Gilda: Mélissa Petit
Sparafucile: Miklós Sebestyén
Maddalena/Giovanna: Katrin Wundsam
Graf Monterone: Kostas Smoriginas
Wiener Symphoniker
Prager Philharmonischer Chor
Bregenzer Festspielchor
von Charles E. Ritterband
Eine phänomenale Inszenierung – vielleicht gar eine Weltsensation: Dieser „Rigoletto“ auf der Seebühne, die uns in den vergangenen Jahrzehnten schon so viel Staunenswertes und Bewundernswürdiges geboten hat, wird Geschichte machen. Der Regisseur und zugleich Bühnenbildner Philipp Stölzl hat hier einen grandiosen Wurf zustande gebracht, der dieser so erfolgreichen Oper mit dem größten Opern-Gassenhauer aller Zeiten („La donna è mobile“) eine neue, völlig andere Dimension erschließt.
Erst kürzlich durfte ich an dieser Stelle die nicht weniger fulminante „Rigoletto“-Inszenierung des schottischen Regisseurs David McVicar am hochkarätigen finnischen Opernfestival Savonlinna preisen. Jener „Rigoletto“, so meine Folgerung, sei schlicht nicht mehr zu übertreffen. Mit der Premiere gestern auf der Seebühne wurde meine eigene Behauptung widerlegt – was dem Publikum geboten wurde, war gleichsam die perfekte Antithese jener so vollkommen textgetreuen und historisch präzisen, zugleich atemberaubend spannenden Inszenierung in Savonlinna: In Bregenz erwartete uns eine hochgradig originelle, konsequent bis ins letzte Detail durchdachte und durchgeführte Alternative.
„Rigoletto“ könnte man – abgesehen von den orgiastischen Szenen mit den wüsten Höflingen am Hof des Herzogs von Mantua – genauso gut als Kammeroper im intimsten Rahmen inszenieren. Was da emotional und psychologisch abläuft, in Verdis genialer Musik verwirklicht, ist ein Drama zwischen vier bzw. sechs Männern und Frauen. Diese Oper auf die riesigen Dimensionen der größten Seebühne der Welt zu übertragen und den immensen Raum zu füllen, ist eine Herausforderung, der nicht jeder Regisseur gewachsen ist: Stölzl, der, wie er permanent zeigt, vom Film kommt, hat es gestern geschafft – meisterhaft und für das staunende Publikum atemberaubend.
Stölzl hat den „Rigoletto“ konsequent ins Zirkus-Milieu übertragen, hat aus dem Herzog einen selbstherrlichen, machistisch agierenden Zirkusdirektor gemacht und aus dem Hofnarren Rigoletto einen gar nicht lustigen Clown mit einer dunklen Kehrseite. Aus den Höflingen wurden Akrobaten und traditionell gekleidetes Zirkuspersonal, des Herzogs Häscher sind böse, gewalttätige Menschenaffen, die behende alle Hindernisse überwinden und auch Gilda entführen.
Diese, in blauem Kleidchen und mit roten Schuhen, kindlich auf einer Schaukel spielend, ist unverkennbar ein Zitat aus dem „Zauberer von Oz“ – eine Kopie der Figur Dorothy Gale.
Die riesige Bühne dominiert ein gewaltiger Clownskopf, der die Figur des hier als Zirkusclown agierenden Rigoletto – ins Riesenhafte überhöht: Ein technisches Wunderwerk von 13,5 Metern Höhe und 35 Tonnen Eigengewicht. Ein Blick hinter die Kulissen vor der Vorstellung zeigte mir aufs Eindrücklichste, was dahinter steckt – der Riesenkopf, der sich in alle Richtungen drehen und neigen lässt, dessen Mund und Augen sich bewegen lassen, ist auf einen Hebekran montiert, der – zusammen mit komplexen hydraulischen Maschinerien, die im Kopf verborgen sind – insgesamt ein Gewicht von 140 Tonnen auf die Seebühne bringt, die ja selbst auf 119 in den Seeboden gerammten Pfählen ruht.
Das Verblüffende: dieser Kopf, welcher der Handlung mit Kopfneigung und Augenrollen folgt, scheint sich zu verwandeln – von einem grotesken Clown bis hin zu einem bösen Monster. Zugleich wird dieses Haupt allmählich demontiert – ebenso wie Rigoletto selbst im Lauf der Handlung menschlich zerstückelt wird, vom Spaßmacher zum Auftraggeber eines Rache-Mordes: Dem Kopf fallen allmählich die Augen und die Zähe aus, er verliert seine Clownnase und wird am Ende, im furchterregenden Gewitter der letzten Szene, zum gespenstischen Totenkopf. Flankiert wird dieser unheimliche Clownskopf von zwei riesigen, ebenfalls mechanisch bewegbaren Händen.
Wie konsequent Stölzl sein Konzept umsetzt sei an zwei herausragenden Details illustriert: Der professionelle Mörder Sparafucile – sein Kostüm mit aufgemaltem Gerippe macht ihn zur Personifizierung des Todes – gibt am Bühnenrand seine Künste als Messerwerfer mit seiner Schwester Maddalena als Partnerin zum besten. Und wenn der Herzog sein zynisches „La donna è mobile“ schmettert, lässt er vier junge Damen an Seilen auf die Bühne herabbaumeln, die so wahrhaft „mobile“ werden – und deren Kostüme bestehen aus zahllosen, prallen Brüsten…
Die Bregenzer Festspiele scheuten keine Kosten (nämlich stolze 2,5 Millionen Euro), ihr seit 15 Jahren bestehendes und damals revolutionär innovatives Akustik-System „Bregenz Opern Acoustics“ BOA rundum zu erneuern und das bisherige Lautspecher-Band durch 29 auf Pfosten platzierte Lautsprecher zu ersetzen.
Was bisher hervorragend klang, tönt nunmehr phänomenal. Das zeigte sich vor allem beim Orchester, das nun einen perfekten Raumklang über den Zuschauerrängen mit 7000 Plätzen erzeugt. Leider kam es zweimal zu störenden Rückkoppelungen – ein Problem das sicher beseitigt werden kann. Auch waren im Publikum Beanstandungen zu hören, dass die Geräusche der Mechanik, welche den Kopf bewegen, das musikalische Erleben beeinträchtigen. Doch das ist ein geringes Opfer, verglichen mit den atemberaubenden Effekten dieser Apparaturen.
Bei dieser großartigen, bis in die letzte Einzelheit durchgestalteten Inszenierung stellt sich allerdings die berechtigte Frage, ob das turbulente, bunte Geschehen nicht allzu sehr ablenkt von der feinsinnigen psychologischen Handlung, von der herrlichen Musik Verdis – und den sängerischen Spitzenleistungen.
An erster Stelle ist die Gilda der fantastischen französischen Sopranistin Mélissa Petit zu nennen, die mühelos die höchsten Höhen dieser Partie erklimmt, ohne Konzessionen an die Präzision machen zu müssen und ohne den Wohlklang ihrer Stimme im Geringsten zu schmälern. Die emotionalen Passagen der Gilda singt sie mit einer Subtilität, die ihresgleichen sucht. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass diese Gilda der Mélissa Petit geradezu unglaubliche akrobatische Spitzenleistungen zu vollbringen hat, während sie unbeirrbar und mit ungeschmälertem Wohlklang ihre Partie singt. Der Regisseur ließ sie die emotionalen Höhenflüge ihrer Verliebtheit in einem aufsteigenden Heißluftballon erleben – aus dem sie dann brutal in schwindelerregender Höhe in den Rachen des Rigolettokopf-Monsters entführt wurde.
Dass die Entführer, also die Höflinge, bei ihrem üblen Streich nicht wie im Original Masken tragen, sondern Schweins- und Wolfsköpfe übergestülpt kriegen, ist ein weiterer perfekter Einfall der Regie. Auch Rigoletto kriegt einen Kopf – es ist ein Eselskopf: Einfach gescheit, denn er wird ja von den Höflingen buchstäblich zum Esel gemacht während seine eigene Tochter entführt wird. Gleichzeitig ist dies unverkennbar ein Shakespeare-Zitat (die Figur des Zettel im Midsummernight’s Dream). Bedenkt man, dass Verdi für Shakespeare höchste Bewunderung hegte und drei seiner Stücke zu Opern machte, so ist diese Idee eine kluge Vignette.
Der Herzog, verkörpert vom amerikanischen Tenor Stephen Costello, erbringt Höchstleistungen im wahrsten Sinne des Wortes: Seine berühmteste Arie hat er in höchster Höhe auf dem Clownskopf zu singen – und er leistet diesen akrobatischen Akt auch stimmlich mit klaren, perfekten Höhen.
Tenoralen Schmelz bringt Costello in der Anbetung seiner Gilda wohlklingend zum Ausdruck. Das Quartett im letzten Akt wird, wie in dieser Aufführung kaum anders zu erwarten, zum musikalischen Höhepunkt. Der Rigoletto des bulgarischen Baritons Vladimir Stoyanov beeindruckt mit männlich-satten Tiefen und einer klaren Stimmführung. Machtvoll der litauische Bassbariton Kostas Smoriginas als Monterone, der selbst nach einer Ermordung wie ein Gespenst dasteht und dessen Fluch die Handlung zum bekannten unheilvollen Ende führt.
Die Wiener Symphoniker unter der souveränen Stabführung des Spaniers Enrique Mazzola bringen den Geist Verdis bewegend und erschütternd in die herrliche Bodensee-Landschaft, dieser einzigartigen Naturkulisse für die weltgrößte Seebühne. Nach einem lyrischen Sonnenuntergang wurde es rasch Nacht – und das Gewitter im letzten Akt war dann umso furchterregender und gespenstischer.
Der See, das die Bühne umgebende Wasser, kam in dieser Inszenierung – im Gegensatz zu manch anderen – sehr sinnvoll zum Einsatz: Die rüpelhaften Zirkusleute, das Gefolge des Herzogs, entsorgen alle, die ihnen nicht passen, in den Fluten des Sees – und das Mordopfer des Sparafucile findet auch im Wasser die letzte Ruhestätte.
Charles E. Ritterband, 18. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de
Sänger/Sängerinnen und
Orchester: Klasse.
Inszenierung: Hochgradig krank!
Dieter Nobmann