Simon Boccanegra hat einen Traum, und wir träumen mit

Giuseppe Verdi, Simon Boccanegra  Deutsche Oper Berlin, 29. Januar 2023 PREMIERE

Foto © Bettina Stöß

Für die traumhafte Gesamtleistung gab es ganz real lebhaften Beifall, mit nur wenigen Buhrufen an die Adresse der Regie – aber Applaus ohne Buhs wäre wohl kompromittierend gewesen. Fazit: Hingehen. Gerade in diesen unseren bewegten Zeiten.

Giuseppe Verdi
Simon Boccanegra

Jader Bignamini                   Musikalische Leitung
Vasily Barkhatov                  Regie
Zinovy Margolin                   Bühne
Olga Shaishmelashvili        Kostüme
Alexander Sivaev                   Licht
Martin Eidenberger              Video
Jeremy Bines                            Chor

George Petean                 Simon Boccanegra
Liang Li                              Jacopo Fiesco
Michael Bachtadze        Paolo Albiani
Padraic Rowan                Pietro
Maria Motolygina          Maria/Amelia
Attilio Glaser                     Gabriele Adorno
Karis Tucker                       eine Magd

Orchester der Deutschen Oper Berlin
Chor der Deutschen Oper Berlin
Statisterie der Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin, 29. Januar 2023 PREMIERE 

von Sandra Grohmann

Der Traum vom Frieden. Der Traum, einander die Hand zu reichen, über alle Parteigrenzen hinweg. Der Traum, unterschiedlicher Meinung sein zu können und einander trotzdem nicht die Köpfe einzuschlagen. Davon handelt Verdis Simon Boccanegra, und das bringt der russische Regisseur Vasily Barkhatov eindringlich auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin und mit einem durchweg premierentauglichen Ensemble auch in die Ohren des Publikums.

Doch beginnen wir von vorn. Angekündigt war eine Inszenierung, die das Augenmerk darauf richte, dass Politik und Privatleben sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Nun gut, dachte ich und klickte die Website wieder weg – das kann für Simon Boccanegra ja wohl nicht alles sein, oder man übersieht an dieser Oper viel. Zu viel.

Es war nicht alles. Natürlich nicht. Vasily Barkhatov gehörte in seinen Anfängen nicht umsonst zu den Shooting Stars des Regiefachs. Er versteht sein Handwerk, was er am selben Haus schon 2017 mit der Uraufführungseinrichtung von Aribert Reimanns L’Invisible bewiesen hat.

Im Interview zu seinem Simon Boccanegra weist er zu Recht darauf hin, dass Verdi und seine Librettisten – Piave in der ersten, Boito in der zur Aufführung kommenden zweiten Fassung – eher Schwierigkeiten gehabt haben dürften, der Themenvielfalt Herr zu werden, als dass sie sich platt nur auf einen Aspekt der verzwickten Geschichte um den Dogen von Genua beschränkt hätten. Wenn ich nicht irre, besteht hierin die große Kunst des Regieführens: Tausend Aspekte zu verbildlichen, ohne ein unübersichtliches Wimmelbild zu schaffen. Klare Linien zu finden, ohne ein Stück zu banalisieren. Dies ist mit diesem Simone (die Einführung weist dankenswerterweise darauf hin, dass es Simone heißt, wenn der Beiname nicht hinzugesetzt wird) geradezu vorbildlich gelungen.

Foto © Bettina Stöß

Wir erleben an diesem Abend eben nicht nur die Familiensehnsucht zweier verfeindeter Väter, deren Schicksale durch ihre Töchter und deren Tod bzw. Verschwinden miteinander verknüpft sind: Der Patrizier Jacopo Fiesco ist der Vater von Simones früh gestorbener Geliebten Maria und damit Großvater des Kindes, das aus der, wie man früher so treffend sagte, Verbindung zwischen den beiden jungen Leuten hervorgegangen ist. Dieser Fiesco, von Liang Li mit seelenvollem Bass als tief trauernder Vater dargestellt, der zugleich in den Konventionen des Adels gefangen ist, kämpft sein halbes Leben lang gegen seinen verhinderten plebejischen Schwiegersohn. Zur Versöhnung ist er nur bereit, wenn Simone das Enkelkind in die Obhut des Großvaters gibt. Dies aber ist unmöglich, weil niemand weiß, wo das Kind nach dem Tod der alten Frau, bei der es lebte, abgeblieben ist. (Sollte diese Story bei Ihnen Fragen aufwerfen, möchte ich dazu nur anmerken, dass die Jugendämter auch heutzutage nicht jeden Fall von Verwahrlosung verhindern können, und damals gab es noch kein Jugendamt.)

Jedenfalls wird Simone als Doge von Genua kurz darauf der Nachfolger von Fiesco. Letzterer verbringt das folgende Vierteljahrhundert als Geistlicher namens Pater Andrea und intrigiert munter weiter. Als 25 Jahre nach dem Drama um die Neuwahl des Dogen – Simone ist immer noch an der Macht – die verlorene Tochter/Enkeltochter in Person einer Amelia Grimaldi tatsächlich oder vermeintlich wieder auftaucht, könnte sich alles in Wohlgefallen auflösen, wären nicht die Patrizier und Plebejer unbeirrbar weiterhin der Meinung, es gehe nichts über eine möglichst blutige Prügelei. Hier setzt die Regiearbeit an.

Im Berliner Boccanegra sind die Passagen, in denen es um das Wiedererkennen der verlorenen Tochter geht, durch Lichteffekte als Traum gekennzeichnet. Damit erscheint möglich, dass Amelia gar nicht wirklich die Tochter des Dogen ist. Dieser braucht das Wiedererkennen aber, um die Bedingung von Fiesco endlich erfüllen und damit die Voraussetzung für die Versöhnung schaffen zu können. Er braucht die Tochter auch, um den Graben zwischen Patriziern und Plebejern zu überbrücken. Die Tochter ist Simones Friedensbringerin. Und siehe: Die Traumszenen sind just auch diejenigen, in denen sich der Frieden ausbreitet. Oder eben eine Vision, ein Traum, ein Wunsch von Frieden und Versöhnung. Besonders eindrücklich dort, wo der Plenarsaal des Dogenpalastes vom Volk gestürmt wird. In Traumlicht gehüllt, hält der Doge die Eindringenden davon ab, zu randalieren. Er heißt die Polizisten ihre Schilde senken und stiftet beide Seiten an, einander die Hand zu reichen.

Foto © Bettina Stöß

Verdi, der selbst eine Zeitlang in der Politik tätig war und sich zeit seines Lebens nicht scheute, deutlich Stellung zu beziehen, wäre mit dieser Ausdeutung wohl zufrieden gewesen. „Ob das so zwingend war?“ höre ich einen älteren Zuschauer hinter mir fragen. Tja – was ist schon zwingend in dieser Welt. Jedenfalls ist es eine bezwingende Version, die wir hier geboten bekommen, denn sie ist sorgfältig aus Libretto und Musik herausgearbeitet, und sie leuchtet in ihrer politischen Botschaft ein. Was für Assoziationen setzt das frei! Von Martin Luther King bis zu den jüngsten Ereignissen in Brasilien klingt der Zustand der Welt an, ohne dass die Regie etwas hätte dazuerfinden müssen.

Die zwischen den Akten eingesprochenen und eingeblendeten Schlagzeilen verdeutlichen nur, ohne zu verfälschen, und wir hören die gesamte Oper ohne brutale Umdeutung. Als Traum, der sich auch als Frage deuten lässt: Was, wenn Wiedererkennen, Friede, Versöhnung wahr wären? Als Frage, die sich seit dem Beginn menschlicher Gemeinschaft stellt. Davon leben die großen Geschichten: dass sie zeitlos sind. Dass sie die Grundfragen des Menschseins ansprechen, ohne wohlfeile Lösungen zu bieten. Besonders dankenswert ist es daher auch, dass Barkhatov am Ende nicht zeigt, wie der Nachfolger Boccanegras erneut an demselben Konflikt scheitert. Wir ahnen, dass es so sein könnte. Aber wir haben auch einen Traum…

So, wie das angenehm funktionale Bühnenbild die Zeitlosigkeit der Geschichte visualisiert, setzten die Sängerdarsteller die Träume und die kontrastierenden Geschehnisse perfekt um. Neben dem schon erwähnten, sich immer wärmer in die tiefsten Töne singenden Liang Li als Fiesco erfreuten auch George Petean mit seinem eleganten Bariton in der Titelpartie und Michael Bachtadze als Paolo in dem Fest der tiefen Männerstimmen, das diese Oper musikalisch in allererster Linie ist.

Foto © Bettina Stöß

Besonders zum Schwärmen brachte mich das Duett von Li und Petean im letzten Akt. Die Stimmfarben beider passten in aller Unterscheidbarkeit wunderbar zueinander, und Li übersang den vom Stimmvolumen her etwas zarteren Petean nicht – und das sehr durchsichtige, für Petean gleichwohl gelegentlich zu mächtige Orchester spielte hier nur eine unterstreichende Rolle. Bereits  in den zweieinhalb Stunden zuvor stellte die Ensembleleistung das neugierige Ohr sehr zufrieden. Der stimmlich äußerst souveräne, geradezu lässig wirkende und trotzdem präzise singende Michael Bachtadze verkörperte den hinter den Kulissen wirkenden Machtmenschen auch, indem er in den Volkszenen wie aus dem Nichts sang – in grau gekleidet, schien er Teil des Chores zu bleiben, so dass nicht gleich zu erkennen war, wo er eigentlich stand. Ich wusste ja schon vor dem Abend, dass es Bauchredner gibt, aber Bauchsänger? Was für ein Coup, die Intrigantenrolle spielerisch und musikalisch so in Szene zu setzen. Dass der Chor selbst Spitzenleistung lieferte, versteht sich an diesem Haus schon fast von selbst. Jeremy Bines hat mit den Damen und Herren wieder Vorzügliches geleistet.

Bass und Baritone stehen im Rampenlicht, der Chor kommt wunderbar zur Geltung und auch das Orchester darf von zarter Lyrik bis drohendem Unterton alles ausspielen, was in ihm steckt, glasklar und die Stimmen herausarbeitend geführt von Jader Bignamini, der nur selten Wünsche in Richtung „könnte noch etwas delikater sein“ offen ließ. All das aber heißt natürlich nicht, dass unser klassisches Sopran-Tenor-Paar nicht auch etwas zu bieten gehabt hätte. Hatte es! Ensemblemitglied Attilio Glaser überzeugte mit klarem, aber gottlob nicht dünnem, mittelweichem Tenor, der allenfalls im oberen Register seine Grenzen erahnen ließ, und machte auch sonst bella figura als verliebter, wenngleich reichlich impulsiver Edelmann. Ich bin ja mäkelig mit Tenören und genoss es sehr, meine Skepsis überwinden zu können. Besonders erfreulich fällt übrigens wieder einmal die Nachwuchsarbeit der Deutschen Oper Berlin auf, denn Glaser kam 2015 nach seinem Studium als Stipendiat ans Haus und gehörte ein Jahr später zum Ensemble. Inzwischen singt er auch auf anderen großen Bühnen der Welt, in Bayreuth war er als Steuermann zu hören.

Nachwuchsarbeit ist zugleich das Stichwort für Maria Motolygina. Im Gegensatz zu den Tenören sind wir gegenwärtig mit großartigen Sopranen zwar reich gesegnet und die Konkurrenz ist nie fern, diese aber muss die vom Bolschoi Theater geförderte Künstlerin nicht fürchten. Herrlich, wie sie ihre Stimme aus dem Piano heraus in den großen Bogen zu führen weiß. Bei nicht hörbaren Registerwechseln, strahlenden Höhen und durchweg wunderschöner Wärme mit nur ganz seltenen und gelinden Schärfen in der Stimme macht es schlicht Freude, ihr zuzuhören. Die Belcanto-Stipendiatin macht dem Förderkreis der Deutschen Oper Berlin mehr als Ehre.

Für die traumhafte Gesamtleistung gab es ganz real lebhaften Beifall, mit nur wenigen Buhrufen an die Adresse der Regie – aber Applaus ohne Buhs wäre wohl kompromittierend gewesen. Fazit: Hingehen. Gerade in diesen unseren bewegten Zeiten.

Sandra Grohmann, 31. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Giuseppe Verdi, Simon Boccanegra Wiener Staatsoper, 18. September 2020

Giuseppe Verdi, NABUCCO Deutsche Oper Berlin, 6. Dezember 2022

7 Deaths of Maria Callas, Ein Opernprojekt von Marina Abramović, Deutsche Oper Berlin, 8. April 2022 Premiere

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert