Die Aufführung stand ganz unter den herausragenden tänzerischen Leistungen von Alexandr Trusch als Prinz und der vom Königlichen dänischen Ballett nach Hamburg gewechselten Ida Prätorius. Zart und federleicht präsentierte sie die Aurora, mit perfekten Drehungen, fantastischem Standvermögen im Rosen-Adagio und überzeugender Darstellung der zum Leben und zur Liebe erweckten jungen Frau.
Dornröschen, Bühnenbild von Jürgen Rose, in der Mitte Christopher Evans als Catalabutte (Foto: Kiran West)
Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2021 (PREMIERE)
Hamburg Ballett, Dornröschen
von Dr. Ralf Wegner
Erstmals sah ich dieses von Jürgen Rose prächtig ausgestattete Ballett 1979, mit der großartigen Marianne Kruuse als Aurora, die heute im Publikum saß, und Ivan Liska in der Prinzenrolle, zuletzt 2007 mit Carolina Agüero und Alexandr Riabko. Dazwischen tanzten alle Hamburger Ballerinen die Rolle der Aurora wie u.a. Anna Grabka, Silvia Azzoni oder Elisabeth Loscavio. 1996 premierte zudem eine sehr moderne, aller Prächtigkeit entkleidete Fassung von Mats Ek, die parallel zu Neumeiers Choreographie lief und vom Publikum nicht so gut aufgenommen wurde. Denn nicht wenige Besucher achteten nur auf den Namen des Balletts. Und der suggeriert ein klassisches Märchen und nicht die Geschichte einer Drogensüchtigen, die Ek erzählteAber gerade diese Interpretation ging unter die Haut, auch dank der Darstellung der süchtig werdenden Aurora, die sich an der Drogennadel sticht, durch Silvia Azzoni. Ich erinnere mich noch wie heute, wie sie, die die Rolle kurzfristig von der erkrankten Bettina Beckmann übernommen hatte, zitternd und zuckend auf dem Boden lag, wie sie trotzig beim Ausflug mit den Eltern im Auto verblieb, und wie diese aus ihrem Leben entsorgt wurden: Lloyd Riggins und Joelle Boulogne sprangen unvermittelt in den Orchestergraben und tauchten nie wieder auf. Als Drogenbeschaffer diente, in dieser Rolle ebenfalls unvergessen, Gamal Gouda.
Eigentlich hätte heute Silvia Azzoni die Rolle der Königin übernehmen sollen, mit ihrem Mann Alexandre Riabko als König. Sie wurden kurzfristig durch Anna Laudere und Ehemann Edvin Revazov ersetzt. Beide gaben dem Königspaar die nötige Würde und Ausstrahlung. Es wäre aber auch schön gewesen, Silvia Azzoni ein Vierteljahrhundert nach ihrer drogensüchtigen Aurora jetzt in der Mutterrolle gesehen zu haben.
Was nun tatsächlich von Neumeier geändert worden ist, lässt sich schwer sagen, dafür ist die zuletzt vor 14 Jahren gesehene Aufführung zu lange her. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass die Begleiter des Prinzen wie bei einem Vatertagsausflug eine Bierkiste mit auf die Jagd schleppten, auch trug Prinz Désirédamals zur Hochzeitsgala wohl keine Jeans mit Hemd.
Letzteres ist in zweierlei Hinsicht schwer zu verstehen: Ein junger Mann, der sich in eine Märchengeschichte hineinträumt oder diese realiter erlebt, würde sich wohl, auch heute noch, bezüglich der Hochzeitskleidung an die Gepflogenheiten anpassen. Beim Grand Pas de deux verzichtet Neumeier für seinen Prinzen zudem nicht auf die klassischen Schritte Petipas, was einleuchtend gewesen wäre. Warum nicht an dieser Stelle modernen Tanz zeigen, den Désir seiner Braut beibringt? Hinzu kommt, dass Tänzer in ihren Ballett-Trikots größer wirken und der Désir der heutigen Aufführung, Alexandr Trusch, infolge seiner modernen Kostümierung im Vergleich mit der prachtvoll gekleideten Aurora kleiner wirkte als er ist.
Damit soll es mit den haarspalterischen Anmerkungen genug sein. Denn die Aufführung stand ganz unter den herausragenden tänzerischen Leistungen von Alexandr Trusch als Prinz und von der vom Königlichen dänischen Ballett nach Hamburg gewechselten Ida Prätorius. Zart und federleicht präsentierte sie die Aurora, mit perfekten Drehungen, fantastischem Standvermögen im Rosen-Adagio und überzeugender Darstellung der zum Leben und zur Liebe erweckten jungen Frau.
Nach der Vorstellung: Xue Lin (Prinzessin Florine), Christopher Evans (Hoftanzmeister Catalabutte), Patricia Friza (Königinmutter), Hélène Bouchet (Die Rose). Ida Prätorius (Aurora), Matias Oberlin (Der Dorn), Emilie Mazoń (Frohsinn in Amors Segen), Alexandr Trusch (Prinz Désiré), Alessandro Frola (Reichtum in Amors Segen), Yun-Su Park (Mut in Amors Segen) (Foto: RW)
Trusch war ihr und Hélène Bouchet (die gute Fee, jetzt von Neumeier Die Rose genannt) ein perfekter Partner. Wie er die langgliedrige Bouchet beim Rosenfest hebt, sie in der Höhe nur auf die linke Hand gestützt problemlos hält und mir ihr über das Bühnenrund schreitet, war schlicht atemberaubend. Auch der Pas de deux mit ihr hinter der Dornenwand gehört zu dem schönsten, was dieses Ballett zu bieten hat. Perfekt hob Trusch auch Prätorius in die Höhe, um sie danach geschwind in die mit dem Kopf nach unten gerichtete Fischfigur zu verlagern. Absoluter Höhepunkt war sein furioses Solo am Schluss des Balletts.
Als Hoftanzmeister Catalabutte brillierte Christopher Evans mit weiten Sprüngen und schönen Entechat six (wenngleich nur wenige und geflügelt, anders als bei seinem famosen Albrecht in Giselle). Die Doppeldrehungen gelangen Alessandro Frola etwas präziser, auch infolge eines ungewöhnlich hohen Spins. Frola wird in einer der Folgevorstellungen den Prinzen Désiré tanzen, zusammen mit Madoka Sugai als Aurora. Darauf darf man gespannt sein. Die böse Fee, jetzt Der Dorn genannt, wurde von Matias Oberlin perfekt getanzt, aber noch nicht ganz mit der Ausdruckskraft, die dereinst Max Midinet zu eigen war. Patricia Friza fesselte als Königinmutter, Xue Lin als Prinzessin Florine, letztere in einem Pas de deux mit Christopher Evans.
Das Bühnenbild und die gesamte Aufführung haben nichts von ihrer Prächtigkeit verloren, dank an Jürgen Rose, der den Beifall des Publikums persönlich entgegen nahm. Beim Erscheinen John Neumeiers erhob sich das Parkett geschlossen von den Sitzen. Die musikalische Leitung der eingängigen Komposition Tschaikowskys hatte Markus Lehtinen inne, die Solo-Violine spielte Daniel Cho. Der Saal war ausverkauft, es mussten während der Vorstellung Masken getragen werden. Das Publikum jubelte ob der Wiederherstellung dieses klassischen, technisch anspruchsvollen Balletts. Es wurden allerdings keine Blumen geworfen, was bis vor Corona bei Ballettaufführungen fast allabendlich üblich gewesen war.
Dr. Ralf Wegner, 19. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at